Die Tage vergingen, ohne, dass sich etwas Neues ergab, abgesehen von der Identifikation der Leiche. Aber das interessierte mich wenig.
Irgendwie war die Luft raus, seitdem ich die Session mit Alis gehabt hatte, und ich beschloss, meine Termine abzusagen. Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage, meinen Kunden die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.
Die einzigen, die ich empfing, waren die, die nur kuscheln wollten. Kuscheln war okay, das tat mir gut, obwohl es auch nur eine Dienstleistung wie jede andere war.
Aber hier musste ich wenigstens nicht denken, konnte einfach sein und ab und zu ein paar nette Worte sagen. Mehr Ansprüche gab es nicht.
War ich etwa schon in einer Midlife-Crisis, dass ich alles in Frage stellte?
Das konnte ich mir nicht leisten. Ein paar Tage Auszeit, das ja. Aber eine längere Pause? Unmöglich. Und umsatteln? Tja, Pech, dass ich nichts Anständiges gelernt hatte. Und mein Talent – oder vielmehr meine Lust – zum Kochen und backen hielt sich mehr als in Grenzen. Von meinen Kunden ganz abgesehen. Manche waren erst bei mir glücklich geworden. Sollte ich ihnen das einfach so nehmen? Brachte ich das übers Herz?
Ich dachte an Richard und Jonathan. Konnte ich ihnen wirklich so das Herz brechen? Oder hatte ich einfach die professionelle Distanz verloren, weil ich mir so viele Gedanken um sie machte?
„Hi."
Jemand hatte sich zu mir auf die Bank gesetzt.
Ich schaute zur Seite und sah, dass es Joris war.
„Was machst du denn hier?", fragte ich. „Ich hatte doch gesagt, dass ich den Termin leider absagen muss."
„Es gibt tollen Kaffee und Kuchen hier."
Dagegen konnte ich nichts sagen, es stimmte ja.
„Und dann sagte Omid, vielleicht wäre es gut, wenn mal jemand nach dir sieht, der nicht zum Personal gehört. Du wärst nicht mehr du in der letzten Zeit."
Alte Plaudertasche. Dumm nur, dass ich ihn verstehen konnte. Immerhin hatte er mich noch nicht zum Krisengespräch gebeten. Ich an seiner Stelle hätte das schon längst getan, immerhin lebte dieser Hof hier von dem Geld, das wir verdienten.
Allerdings ging Joris das nichts an. Er war ein künftiger Kunde und damit für meine Privatgespräche tabu. Eiserne Regel.
„Hättest du Lust auf einen kleinen Ausflug?"
„Was?"
„Einen Ausflug. Mal hier rauskommen. Klar, Little Ireland ist das Paradies, aber ab und zu ist es doch mal schön, etwas Abwechslung zu haben, oder? Was sagst du?"
Das Angebot war nett, keine Frage. Aber auch sehr dünnes Eis, das ich eigentlich nicht betreten wollte.
Omid kannte meine Regeln. Was hatte er sich dabei gedacht, Joris zu mir zu schicken?
„Oder wir bleiben einfach hier sitzen und unterhalten uns", sagte er. „Ich habe Zeit und keine Eile."
„Hast du vor, dich mit mir anzufreunden?", fragte ich und schaute ihn an.
„Warum nicht? Du warst die erste, die mich mit meiner Anfrage nicht weggeschickt hat. Ich finde, das ist eine gute Basis für eine Freundschaft. Gegenseitiger Respekt."
Klar, damit hatte er vollkommen recht. Trotzdem war ein Kunde. Und das als Basis für eine Freundschaft ... ich konnte nicht sagen, ob das gut war oder nicht. Ich war immer noch seine Dienstleisterin.
„Ich weiß, dass es gegen deinen Kodex verstößt", fuhr Joris fort. „Omid hat das auch gesagt. Aber ich weiß ziemlich gut, wie du dich gerade fühlst. Ich war auch mal in dieser Situation."
„Du warst mal Dom?"
„Mehr oder weniger. Sagen wir, im Dienstleistungsgewerbe. Bin es immer noch. Aber ich falle nicht mehr in diese Löcher."
„Und wie hast du das geschafft?"
Klar, ich konnte nicht die einzige mit so einem Problem sein. Obwohl ich eine der wenigen sein dürfte, die wirklich so isoliert lebten.
„Omid hat auch noch erzählt, dass ihr ein Ceili veranstaltet."
„Ja, und? Es ist ein nettes Fest, die Leute mögen es."
„Wann warst du das letzte Mal shoppen?"
„So richtig? Keine Ahnung. In der Schule, glaube ich. Warum?"
„Wie wäre es, wenn wir das jetzt machen? Du kommst ein bisschen unter Leute, auf andere Gedanken und findest vielleicht ein nettes Kleid für den Tanz. Ich bin nur das brave Anhängsel, das Taschen trägt. Keine Verpflichtung, keine Verletzung deiner Regeln. Sieh es als Spielerweiterung. Ich bin dein persönlicher Sklave."
Damit konnte ich mich fast anfreunden. Wenn Joris nicht eine andere Fantasie gehabt hätte.
„Das ist nicht dein Ding."
„Tu doch einfach so, als ob. Außerdem ist es mein Ding, Menschen zu helfen. Und du hast was gut bei mir, Bezahlung hin oder her. Die wollten die anderen nämlich auch, aber keine hat sich meiner angenommen."
Das war natürlich ein Argument. Außerdem ... was hatte ich groß zu verlieren?
Ein Shopping-Ausflug würde wohl kaum Schaden anrichten.
„Okay. Du bist der Stadtjunge, du weißt, wo es Geschäfte gibt. Du fährst."
Joris stand auf und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Gentleman.
Ich machte einen kurzen Umweg über das Café, um Omid zu sagen, dass ich ein paar Stunden weg sein würde, und holte dann meine Geldbörse.
Ich ging nicht davon aus, dass der Ausflug sonderlich lang dauern würde. Die Fahrerei, klar, das war eine Hausnummer. Aber der Rest? Ich bezweifelte, dass ich etwas Passendes finden würde.
„Startklar?", fragte Joris, als ich in sein Auto einstieg.
„So startklar wie möglich. Also los. Entführ mich."
„Mit dem größten Vergnügen."
Die Fahrt verlief ruhig, Joris redete nicht viel, was mich überraschte. Eigentlich hatte ich ihn für eine Plaudertasche gehalten. Aber vielleicht konzentrierte er sich einfach nur auf die Straße.
„Darf ich Musik an machen?", fragte ich, als die Stille mich nervös zu machen begann.
„Klar. Wenn du magst, kannst du dein Handy anschließen, sonst dreh einfach ein bisschen am Radio, bis du einen guten Sender erwischst."
Ich entschied mich für mein Handy.
Aus Gewohnheit schleppte ich immer mein Ladekabel mit mir herum, weil ich dem Akku nicht traute.
Kurz darauf ertönte sanfte Gitarrenmusik aus den Lautsprechern.
„Magst du sowas?", fragte Joris. „Instrumentalmusik?"
„Ich finde es beruhigend. Klar, manchmal kann es einem auf die Nerven gehen, aber gerade finde ich es entspannend."
„Stimmt. Spielst du ein Instrument?"
„Nein. Ich wollte immer irgendwie, aber dann dachte ich, ich sei nicht gut genug und würde es ohnehin nicht schaffen. Dann kam der Job und ich hatte wenig Zeit. Geld dann genug, selbst für ein Klavier, was ich früher immer spielen wollte. Nur fühle ich mich alt und unbegabt. Kein Drang, irgendwie anzufangen."
„Dann kaufen wir dir heute ein Instrument."
„Was?"
Ich war baff. Was sollte das?
„Wir kaufen dir ein Instrument und du wirst lernen, es zu spielen. Mehr nicht."
„Und warum?"
„Weil du meine Bedürfnisse und Wünsche erfüllst. Und da ist es nur fair, wenn ich dir helfe, deine zu verwirklichen. Oder nicht?"
„Du bist echt durchgeknallt."
Ich bereute meine Worte nicht, es war die Wahrheit. Ich verstand nicht, wieso er so etwas tat. Wir kannten und nicht und hatten nur eine Geschäftsbeziehung.
„Ich weiß. Aber ich finde, man sollte Glück, das man erfährt, teilen oder zurückgeben. Und vielleicht brauchst du ja nur ein wenig Ansporn. Außerdem ist man nie zu alt, um etwas Neues anzufangen. Sonst dürftest du ja keine Erstkunden über 60 mehr annehmen, oder?"
Ich wollte schon „Das ist was anderes" sagen, aber im Grunde hatte er recht. Viele Männer und auch einige Frauen kamen erst sehr spät auf die Idee, dass ihnen in ihrem Sexualleben etwas fehlte.
Außerdem hatte ich ja nichts zu verlieren, außer Geld. Aber das war zu verschmerzen, ich hatte genug. Nur sparte ich es lieber, anstatt mir davon Dinge zu kaufen, die ich ohnehin nur selten benutzen würde und die dann sinnlos in der Ecke standen. Dazu waren mir Geld und Platz dann doch zu schade.
„Okay, überzeugt", seufzte ich und lehnte mich im Sitz zurück.
Ich fragte mich zwar immer noch, was ich hier machte, aber es konnte nicht schaden, einfach mal ins kalte Wasser zu springen. Überraschungen erlebte man schließlich immer wieder, wenn man sich auf die Herausforderung einließ.
„Also ein Kleid und ein Instrument. Fällt dir noch etwas ein?"
„Dafür müsstest du mir mehr über dich erzählen. Möchtest du?"
Ich zögerte. Dünnes Eis, rief ich mir in Erinnerung.
„Du hältst deine Kunden lieber auf Abstand, oder? Lass mich raten, du weißt fast alles über sie, aber sie so gut wie gar nichts über dich."
„Stimmt. Ich muss viel über sie wissen, damit sie das bestmögliche Erlebnis bei mir haben und sich wohlfühlen. Andersrum ist das eher nicht der Fall. Sie kennen mich eigentlich gar nicht und das ist auch gut so."
„Ich kann gut verstehen, wo das herkommt. Ich erzähle Menschen auch so gut wie nichts über mich. Nur irgendwann wird das, was man nicht geteilt hat, zu viel. Das Fass läuft über und man kann weder vor noch zurück. Bis sich plötzlich irgendwo ein Loch auftut, durch das man entkommen kann."
„Und das ist dir passiert?"
Joris zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube schon. Es geht mir jedenfalls besser und ich fühle mich nicht mehr so schwer. Das war, bevor ich mich an dich gewandt hatte. Wäre dieses Loch nicht gewesen, säße ich jetzt nicht hier."
„Und du erzählst mir auch von dir?"
Das konnte ich mir eigentlich kaum vorstellen. Wenn er wusste, in welcher Situation ich war und er das selbst erlebt hatte, musste er genauso vorsichtig sein wie ich. Zumindest privat. Alles, was wir taten und besprachen, würde rein oberflächlich bleiben, um sich keine Angriffsfläche zu bieten oder eine Illusion zu rauben. Was bei mir möglicherweise schon zu spät war.
„Kannst du mich denn immer noch als gnadenlose Inquisitorin sehen?", fragte ich. „Ich habe das Gefühl, dass ich mir hier gerade meine Einkommensquelle vernichte."
„Du bist du. Und als Inquisitorin bist du die Inquisitorin. Gerade bin ich an der Trinity interessiert, die du bist, wenn keine Kunden bei dir sind. Wenn du keine Rolle spielen musst."
Das wusste ich ja nicht mal selbst. Ich lebte so sehr in meinem Job, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte, wer ich eigentlich war.
Was bedeutete es, Trinity zu sein? Die Dreifaltigkeit? Dass ich drei Teile meines Lebens miteinander in Einklang bringen musste? Meinen Job, mein Ich und mein Umfeld? Sowas in der Richtung?
„Ziemlich übel, oder? Sich mit einem Mal der Erkenntnis stellen zu müssen, dass man außer seiner Arbeit eigentlich keinen Lebensinhalt mehr hat. Und sich nur über den Job definiert."
„Über welchen Job hast du dich definiert?"
„Nichts Legales."
Er sagte das so neutral, dass ich überhaupt nicht daran zweifelte, dass er die Wahrheit sagte, und beschloss, dass ich nicht mehr wissen wollte.
„Machst du das immer noch?"
„Wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich wäre dumm, wenn ich irgendwas mit dir vorhätte, alle auf dem Hof wissen, wo du hin wolltest und mit wem du weg bist. Für dich bin ich harmlos."
Irgendwie vertraute ich ihm. Und Disktretion war mein zweiter Vorname, also beschloss ich, das, was er gerade gesagt hatte, einfach zu vergessen. Er hatte es mir nie erzählt, das war vermutlich am gesündesten.

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Little Ireland
RomanceTrinity betreibt als FemDom einen Bauernhof mit angeschlossenem BDSM-Domizil. Ihr Leben gerät komplett aus den Fugen, als sie sich in einen ihrer Kunden verliebt, der ein düsteres Geheimnis in sich trägt ...