Teil16

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„Wie viel Zeit hast du, bis er das Zeitliche gesegnet haben muss?"
„Einen Monat."
„Wir werden uns was überlegen. Und die nächsten vier Wochen lebst du bei mir. Oder passt das wegen der Praxis nicht?"
„Ich kann die Praxis auch verlegen. Es ist ohnehin eine mobile Praxis. Wenn du nichts dagegen hast."
„Kein Thema. Vielleicht bekommt das Café dann auch mehr Zulauf. Oder die Patienten bleiben aus, weil der Weg zu weit ist. Wäre das schlimm?"
„Ich habe geug Geld. Ich wollte nur ... etwas tun, das Leben rettet. Und Tiere sind, im Gegensatz zum Menschen, eigentlich uneingeschränkt gut. Von den seltenen Ausnahmen mal abgesehen. Deswegen bin ich Tierarzt geworden."
Das klang logisch. Tiere waren die besseren Menschen. Da teilten wir irgendwie eine Leidenschaft.
„Wir versuchen, uns heute einen schönen Abend zu machen", sagte ich. „Ich habe Eis da. Und Alkohol. Daran mangelt es also nicht."
„Tut mir leid, dass dein Ausflug so verlaufen ist. Eigentlich wollte ich dir wirklich nur eine Freude machen, weil du mir dabei hilfst, diese Last loszuwerden. Oder zumindest damit klarzukommen."
„Das macht nichts. Story of my life, oder so. Wirklich. Ist schon okay. Und es war ... trotzdem irgendwie ein schöner Tag, finde ich."
Als wir auf den Hof fuhren, kam uns Andre entgegen, in der Hand das Geschäftstelefon. Es musste wichtig sein. Und wenn es wichtig war, hieß das ...
„Deine Eltern wollen übermorgen herkommen", keuchte er. Offenbar war er gerannt, um mir das Telefon in die Hand drücken zu können. Armer Kerl. Und: Scheiße.
„Hi, Ma", sagte ich, während ich ausstieg. „Tut mir leid, ich war bis eben unterwegs. Ihr wollt vorbeikommen? Was ist der Anlass?"
„Wir dachten, wir könnten vielleicht bei den Vorbereitungen für deine Feier helfen", sagte sie. „Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr gesehen. Wir haben uns extra Urlaub genommen, um ein paar Tage bleiben zu können und würden dann noch mal für deine Feier kommen. Oder findet die schon in dem Zeitraum statt? Ich kann mir sowas nie merken."
„Wir haben aktuell keine Wohnungen frei", sagte ich. „Und ich habe ... einen Gast. Meinen Freund. In seiner Wohnung ist Schimmel und er wohnt die nächsten vier Wochen bei mir, damit alles renoviert werden kann."
„DU hast einen Freund? Im Ernst? Wieso wissen wir davon nichts? Warum hast du nichts gesagt?"
Weil es ja auch nicht stimmte. Aber die Reaktion gab mir die perfekte Ausrede.
„Weil ich ganz genau wusste, wie du reagieren würdest und ich darauf keine Lust hatte. Ja, ich habe einen Freund. Der bei mir wohnen wird. Und da wir auch Sex haben wollen, würde eure Anwesenheit nur stören. Also schlaft ihr entweder draußen in einem Zelt, bei einem meiner Mitarbeiter oder ihr verlegt euren Besuch einfach."
„Na, den Freund würde ich zu gerne mal kennenlernen", sagte Ma. „Nicht, dass du uns einfach nicht sehen willst und mich anschwindelst. Wir kommen morgen mal vorbei und trinken eine Tasse von eurem tollen Kaffee zusammen! Bis dann!"
„Diese dämliche Kuh", fluchte ich, als sie aufgelegt hatte. „Natürlich muss sie alles kontrollieren, was ich sage."
Ich seufzte und sah Joris an.
„Tut mir leid. Entweder, du spielst meinen Freund oder ich muss Mumpitz anrufen, damit sein Bluthund das machen kann. Den ich ja so beeindruckt habe. Aber wenn ich keinen Mann vorweisen kann, bin ich geliefert."
Joris sah nicht glücklich aus. Wer konnte es ihm auch verdenken? Beziehungen zu faken, auch, wenn das bei Eltern die älteste Story der Welt war, war immer doof. Vor allem, wenn man sich nicht gut kannte.
„Du hast aber nicht vor, wirklich Sex mit mir zu haben, oder?"
„Aktuell nicht. Ansonsten ... wieso nicht. Ich mag Sex. Aber meiner Mutter würde ich es zutrauen, dass sie noch danebenstehen und zuschauen will, damit ich ihr ja nichts vormache."
„Die gleiche Mutter, die es verteufeln würde, wenn sie von deinem Geschäft erführe."
„Eben jene. Und den Rest meiner Familie bringt sie wohl auch mit. Genauso wie zum Ceili."
Ich seufzte wieder, obwohl ich wusste, dass es nichts brachte.
„Andre, mach bitte alles familiensicher. Ich will kein Risiko eingehen, obwohl ich mir manchmal schon wünschte, sie alle loszuwerden. Aber auf die Art muss es nicht sein."
„Joris wohnt die nächsten vier Wochen bei dir?"
„Ja. Lange Geschichte. Nicht zum jetzt erzählen. Ich muss mich erst mal mental auf meine Familie vorbereiten und ... die Wohnung herrichten. Joris arbeitet die nächste Zeit auch hier, also ... nicht wundern."
„Und wer sind Mumpitz und sein Bluthund?"
Fuck. Fuck, fuck, fuck. Da hatte ich ein Mal nicht aufgepasst und ...
„Animateure", log Joris. „Wir hatten bei ihnen wegen des Ceilis angefragt, aber sie haben leider keine Zeit."
„Aha", sagte Andre und ich wusste sofort, dass er mir nicht glaubte. Verdammt. Und ich kannte ihn, er würde nicht lockerlassen, bis ich ihm alles erzählt hatte. Oder fast alles. Und ich wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, dass ich die Mafia kennengelernt hatte. Und überlegte, für sie zu arbeiten.
„Ich erzähle dir die ganze Geschichte später. Jetzt muss ich erst mal Notfallvorsorge betreiben, okay?"
Joris hatte seine Tasche genommen und ich zog ihn mit mir zu meiner Wohnung, schloss die Tür hinter mir ab und versuchte, nicht durchzudrehen.
„Tut mir leid", sagte ich. „Ich hab nicht nachgedacht, für mich war das einfach eine ganz normale Info und ... Mist. Andre wird keine Ruhe geben, bis er alles aus mir rausgequetscht hat."
„Wenn du dich quetschen lässt. Oder du hältst stand."
„Das ist bei ihm echt nicht einfach. Aber ja. Ich werde es versuchen. Muss es versuchen. Und es tut mir leid, dass ich dich in diesen Konflikt mit meinen Eltern mit hineinziehe, aber ... gerade ist es ganz schlecht, wenn sie hier lebten. Ich hasse es, wenn sie sich so kurzfristig ankündigen. Sonst kann ich immer Termine verschieben und alles, aber jetzt klappt das nicht. Und es wird elend schwer, einfach zu verschwinden, während sie da sind. Oder auch nicht da sind. Ich hoffe, sie geben Ruhe, wenn sie dich kennengelernt haben."
„Wir kriegen das schon hin. Zumindest deine Eltern sind ein Problem, das man in den Griff bekommen kann."
„Und für das andere haben wir einen Monat Zeit."
Joris und ich sahen uns einen Moment an und begannen dann zu lachen. Die Situation war so absurd, dass uns nichts Besseres einfiel, als darüber zu lachen. Manchmal war es das beste, was man tun konnte.
„Schon verrückt", sagte er, als wir uns wieder beruhigt hatten. „Da sucht man nach jemandem, der einen foltert und dann finde ich ... dich. Das Schicksal geht verschlungene Wege."
„Wir kennen uns kaum", erwiderte ich. „Nicht vergessen."
„Und trotzdem tust du mehr als die meisten Freunde tun würden. Das weißt du. Das liegt in deiner Natur."
Dem konnte ich nicht widersprechen. Es stimmte, was er sagte. Ich hörte mir Richards Geschichten über seinen Sohn an, kümmerte mich um Jonathans Trauma ... und schob Termine ein, obwohl ich frei hatte. Ja, das war meine Natur. Und ich wusste nicht, ob ich sie mochte.
„Meinst du, man kann seine Natur ändern?", fragte ich. „Wobei, vergiss die Frage. Ja, kann man. Zumindest im Ansatz. Komm, ich zeige dir die Wohnung, damit du weißt, wo was ist."
Ich führte Joris durch mein kleines Reich und zog dann das Sofa aus.
„Wenn du im Kühlschrank nicht das findest, was du suchst, kannst du ins Kühlhaus gehen und dort schauen. Wir holen uns immer von da, was wir brauchen, weil das einfach umweltfreundlicher ist, wenn wir einen Großeinkauf machen und unsere Lebensmittel einlagern, als wenn jeder mehrfach die Woche irgendwohin fährt. Das ist der Vorteil an so einem Betrieb."
„Okay. Und was man nicht nehmen darf, ist beschriftet? Wie in einer WG?"
„Genau. Aber falls du doch was Falsches gegriffen haben solltest, kein Problem. Hier reißt dir deswegen niemand den Kopf ab."
„Gut. Also. Dann kommen wir wieder zu den alltäglichen Problemen, oder? Was machen wir mit deiner Mutter? Oder deiner Familie allgemein?"
„Abwarten, was kommt, und hoffentlich so überzeugend sein, dass sie hier abziehen. Ganz davon abgesehen, dass Cora einen Anfall bekommt, wenn meine Eltern sich in ihre Feier einmischen wollen."
Ich lächelte ihn an.
„Übrigens danke, dass du das mitmachst. Obwohl du ganz andere und viel größere Sorgen im Kopf hast. Ich gebe zu, ohne dich wäre mein Leben zwar gerade nicht so turbulent, aber ... danke, dass du mir hilfst."
„Ich muss dir danken."
Ehe ich genau wusste, was passierte, sahen wir uns tief in die Augen und küssten uns.
Ich konnte es nicht beschreiben, wusste nicht mal, von wem es ausgegangen war, aber er war anders als jeder Kuss vorher. Intensiver, echter. Weil er so spontan gewesen war? Ich wusste es nicht. Aber ich genoss das Gefühl, mich fallenzulassen und nicht immer an den nächsten Schritt denken zu müssen.
Einen agierenden und reagierenden Partner zu haben, der nicht die ganze Zeit Input von mir erwartete. Es war einfach ... schön und ich genoss es.
Bis Joris sich beinahe erschrocken zurückzog.
„Tut mir leid", murmelte er. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Das war ... nicht beabsichtigt."
„Es sollte dir eher leid tun, dass du aufgehört hast", sagte ich etwas frustriert.
Was sollte ich jetzt tun? Ihn noch mal küssen? Tat es ihm leid, dass er nicht gefragt hatte oder dass er mich geküsst hatte?
„Ich bin nicht gut in sowas", meinte er. „Mein Timing ist ... eine Katastrophe. In Beziehungen. Zu schnell, zu langsam ... nie richtig. Tut mir leid."
„Solange du mir noch keinen Heiratsantrag machst, kann ich mit vielem leben."
Ich nahm seine Hand und drückte sie sanft.
„Hey. Mach dir keine Sorgen über richtig und falsch, okay? Das gibt es hier nicht. Das gibt es bei mir nicht. Du hast mir erzählt, dass du Menschen umgebracht hast, und ich habe dich in meine Wohnung eingeladen. Wenn mich das nicht abschrecken kann, was dann? So ein großartiger Kuss ganz sicher nicht. Vor allem nicht, wenn er viel mehr verspricht. Du hast selbst gesagt, dass es in meiner Natur liegt. Mehr zu tun. Mehr zu geben. Vielleicht gebe ich auch schneller als andere. Ich weiß es nicht."
„Du hast gesagt, wir kennen uns kaum."
„Das stimmt auch. Aber wir wissen mehr voneinander als viele andere. Oder wie viele Menschen, die du Freunde nennst und einem anderen Beruf nachgehen als du, wissen, dass du Auftragsmörder warst oder bist? Meine Freunde sind meine Arbeitskollegen. Und wir reden meistens über jede Art von Arbeit. Niemand von ihnen wusste, dass ich früher ein Instrument spielen wollte. Oder malen wollte. Das immer noch gerne täte, mir aber einfach die Kraft fehlt, mich aufzuraffen. Insofern ... kennen wir uns besser als andere, oder?"
Er zuckte nur mit den Schultern und ich drückte einen Kuss auf seine Hand.
„Ich bin im Schlafzimmer. Wenn du Gesellschaft brauchst, komm gerne zu mir. Wenn du Abstand brauchst, lasse ich dich in Ruhe. Hier ist alles okay, was du tust. Die einzige Sache, die du dir merken musst."
Er nickte nur, ich stand auf und ging in mein Schlafzimmer.
Was zur Hölle war da gerade passiert? Hatte ich mich innerhalb weniger Stunden verliebt? Waren das Nachwirkungen von unserem Treffen mit Mumpitz? Brauchte ich irgendwo Halt? Wollte ich unbewusst üben, damit ich vor meiner Familie überzeugend die glückliche Beziehung spielen konnte?
Fragen über Fragen, und ich hatte auf keine eine Antwort.


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