Teil23

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„Hättest du mal lieber nicht fair gespielt."
Eine Sekunde später lag Arthur tot am Boden, aber nicht Esteban hatte geschossen, sondern Arthurs Begleitung.
Es war so schnell gegangen, dass ich überhaupt nicht realisierte, was gerade geschehen war. Wo war der Schusswechsel geblieben? Das Drama?
Im nächsten Moment gaben meine Knie unter mir nach und alles um mich herum drehte sich.
Esteban und Arthurs Begleitung ließen mich aber nicht ausruhen, sondern packten mich unter den Armen und trugen mich hinaus zum Auto, bugsierten mich auf den Rücksitz und fuhren los.
„Was ... was ist da gerade passiert?", fragte ich schwach, versuchte, den aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken.
„Familie", antwortete die Frau und drehte sich zu mir um, lächelte mich an. „Keine Sorge, es geht dir bald besser. Und sobald wir in sicherer Entfernung sind, halten wir mal kurz an, damit du frische Luft schnappen kannst."
Fünfzehn Minuten später hielten wir an einem kleinen Waldstück, ich stieg aus und übergab mich sofort.
Esteban und die Fremde waren sofort an meiner Seite und hielten mir die Haare zurück und strichen über meinen Rücken.
„Geht es wieder?", fragte die Frau, nachdem ich nur noch würgte, aber nichts mehr auskotzte. „Hier."
Sie reichte mir ein Erfrischungstuch, eine Flasche Wasser und wischte mir mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
„Wer zur Hölle bist du?", fragte ich.
„Isabelle."
Estebans Tochter? Die mit dem ganzen Geschäft eigentlich nichts mehr hatte zu tun haben wollen? Was machte sie hier?
Offenbar standen mir meine Fragen buchstäblich ins Gesicht geschrieben, denn sie lächelte mich an und zuckte mit den Schultern.
„Mein Vater hat mir die Situation geschildert. Und ich hatte zwar aussteigen wollen, aber ... nun. Ich weiß auch nicht. Man kann seiner Natur niemals ganz entfliehen. Und ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Und der erste Mord, egal, welcher Art er auch sein mag, sollte immer freiwillig geschehen. Man sollte nicht gezwungen werden, sich die Hände schmutzig zu machen. Das ist so meine Philosophie. Also habe ich dir diese Aufgabe abgenommen. Ich dachte, das wäre in deinem Interesse. Dein Hof ist sicher, du bist sicher ... und Joris und Morgan auch. Der Vertrag gilt noch und ich kann mir überlegen, ob ich zurück ins Ausland gehe oder ... versuche, mit Enrique glücklich zu werden."
„Er würde sich freuen", sagte Esteban, bevor er sich mir zuwandte. „Wie geht es dir, Trinity? Es tut mir leid, dass ich dich nicht eingeweiht habe, aber es schien mir am sichersten so. Ich konnte nicht riskieren, noch einen Fehler zu machen. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich so ins kalte Wasser geworfen habe."
Ich nickte nur, wischte mir den Mund ab und trank einen Schluck Wasser. Was ein Tag. Hoffentlich kehrte in der nächsten Zeit mehr Ruhe in mein Leben ein.
„Wir bringen dich nach Hause", sagte Isabelle. „Ich hoffe, Enrique bekommt keinen Herzinfarkt, wenn ich plötzlich vor ihm stehe."
Das hoffte ich auch.
„Wirst du dann hier bleiben?", fragte ich. „Die Geschäfte deines Vaters übernehmen?"
„Nein. Das ist dein Job. Ich glaube, du kannst das besser als ich. Ich war immer eher im schmutzigen Bereich tätig, deswegen wollte ich auch weg. Versuchen, ein guter, gesetzestreuer Mensch zu sein, bevor mein Leben den Bach runtergeht. Hat offensichtlich nicht geklappt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm. Wer kann das schon wissen?"
„Ich kann versuchen, dich aus so vielem wie möglich rauszuhalten. Und wenn du ein friedliches Leben magst ... in Little Ireland ist Platz für jeden."
„Ich werde darüber nachdenken."
Als es mir wieder besser ging, stieg ich wieder ein und wir setzten unseren Weg fort.
Verrückte Geschichte. Da sollte noch mal jemand sagen, dass das Leben nicht voll von irren Wendungen war.
Auf dem Parkplatz warteten bereits Morgan, Enrique, Joris und all meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Isabelle oder Esteban hatten sie offenbar über unsere Rückkehr informiert.
Sobald wir ausgestiegen waren, stürmten sie auf uns zu, blieben aber fast sofort wieder stehen, als ich die Hand hob.
„Ich muss mir Zähne putzen gehen. Lasst Mumpitz und Isabelle erzählen."
Als ich den Namen „Isabelle" ausgesprochen hatte, sah ich, wie Enriques Augen sich weiteten. Die beiden würden sich eine Menge zu erzählen haben.
Bis auf Morgan und Joris hielten sich alle an meine Bitte. Die beiden folgten mir in die Wohnung und warteten, bis ich mich frisch gemacht hatte.
„Ich will nur noch ins Bett", sagte ich, als ich aus dem Bad kam. „Kommt ihr mit?"
Ich wollte jetzt und für die nächste Zeit nur noch eins: Ruhe und Frieden.

Die nächsten Wochen verliefen recht ereignislos, das einzige, was stressig war, waren die Vorbereitungen für das Ceili, für das wir überall Werbung machten, Plakate in Auftrag gaben und hängten sowie besprachen, was es zu essen geben sollte und welche Bands wir buchten.
Esteban hatte mir versichert, dass keinerlei Spuren zu mir oder Little Ireland führten, trotzdem lebte ich zwei Wochen lang mit der Angst, dass plötzlich die Polizei vor der Tür stand.
Erst danach verebbte diese Furcht langsam.
Isabelle und Enrique hatten eine Wohnung auf dem Hof bezogen, genauso wie Esteban, der so viel Zeit wie möglich mit seiner leiblichen und seiner Adoptivtochter verbringen wollte.
Ich genoss es, plötzlich sowas wie eine große Patchworkfamilie zu haben, auch, weil ich mich mit Isabelle blendend verstand.
Anfangs war sie skeptisch gewesen, ob die Konstellation zwischen uns so gut funktionieren würde, aber nach und nach entwickelte sich eine Beziehung zwischen uns, sodass wir letztlich eine Beziehung zu fünft führten.
Es war eine schöne Zeit.
Zwar hatte ich immer noch Kundinnen und Kunden, aber es machte schon einen Unterschied, wenn ich abends nach Hause kam, und dort jemand auf mich wartete.
Joris hatte seine Praxis bei uns eröffnet und sie lief wirklich gut. Er wirkte glücklich, was ich ihm nicht verdenken konnte. Sein altes Leben war vorbei, ein neues lag vor ihm, in dem er das tun konnte, was er wirklich wollte: helfen.
Morgan half Omid in der Konditorei und beim Kaffee und hatte sich schnell zum allgemeinen Liebling hochgearbeitet, denn ihre Rezepte waren der Wahnsinn.
Jetzt, wo sie nicht mehr diese Bürde in Form ihres Bruders tragen musste, wirkte auch sie wie befreit.
Esteban war für mich ein großartiger neuer Vater. Meine Familie hatte mir eine Woche nach der Sache mit Arthur schriftlich mitgeteilt, dass sie keinen Kontakt mehr zu mir wünschte, weil mein Lebensstil sündhaft war und ein schlechtes Licht auf sie würfe.
Vor ein paar Wochen mehr hätte mich diese Nachricht wohl noch komplett aus der Bah geworfen, doch jetzt erleichterte sie mich. Ich verkündete meinerseits, dass ich ihnen demnächst einen Vertrag zusenden würde, in dem stand, dass ich mich, falls sie pflegebedürftig würden, nicht belangen sollten, wenn das der Weg war, den sie gehen wollten.
Mal sehen, was sie darauf antworteten, aber eigentlich war es mir egal. Es war nur ein absolut sauberer Schnitt.
Esteban stellte mich sämtlichen Leuten vor, auch denen, die keine Schulden mehr bei ihm hatten, und ich konnte mich davon überzeugen, dass diese Menschen vor allem eins waren: dankbar.
Keiner von ihnen hatte Angst vor uns, wir wurden sogar zum Essen eingeladen und wie Familie behandelt. Alles nur, weil Esteban geholfen hatte, als keine Hilfe mehr möglich schien.
Das versöhnte mich mit dem Gedanken, dass ich jetzt Teil des organisierten Verbrechens war, denn offenbar lief wirklich einiges schief im System. Aber es war nicht meine Aufgabe, diesen Fehler zu beheben, das mussten andere tun. Ich war jetzt die, die im Untergrund gegen das System kämpfte und nach und nach gefiel mir der Gedanke.
Ich musste nichts aufgeben, sondern hatte nur einen Geschäftszweig mehr.
Kurz gesagt, sobald ich mich an das alles gewöhnt hatte, erschien mir mein Leben so gut wie perfekt.
Joris, Morgan und ich hatten bemerkt, dass nicht nur unser Verständnis auf körperlicher Ebene nahezu perfekt war, sondern auch auf seelischer. Wir drei bildeten eine Einheit und nach und nach fügten sich auch Isabelle und Enrique ein. Wir teilten unsere Intimität und Vertrautheit miteinander, ohne, dass es zu Eifersucht kam. Wir liebten uns. Als wir diese Tatsache erst mal begriffen hatten, war alles ganz einfach.
Enrique und Isabelle hatten sich vorher nicht für BDSM interessiert, aber es dauerte nicht lange, bis sie neugierig wurden und ich eine Session mit ihnen abhielt.
Beide, so stellte sich heraus, konnten zwischen Sub und Dom spielend wechseln, was sowohl für mich persönlich als auch für Little Ireland eine Bereicherung war. Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten wir immer brauchen.
Joris hatte mich in der Woche vor dem Ceili dazu überredet, ihm noch mal eine Chance zu geben, was den Modeberater anging. Dieses Mal verlief unser Ausflug sogar ganz ohne Entführung und ich ließ mich tatsächlich dazu hinreißen, einen Rabatt des Ladenbesitzers anzunehmen, dem Esteban vor einigen Monaten geholfen hatte.
Ja, der neue Job lohnte sich schon irgendwie.
„Also, tanzt du dieses Mal?", fragte Joris, als wir nach Hause fuhren.
Nach Hause. Dieser Gedanke fühlte sich einfach nur so richtig an.
„Ich weiß nicht. Forderst du mich auf?", fragte ich, sah ihn an und lächelte. „Wenn ja, dann könnte ich es mir überlegen."
„Ich wäre ein Idiot, wenn ich nicht mit einer der drei schönsten Frauen tanzen würde", erwiderte er. „Es wird bestimmt ein schöner Abend, was meinst du?"
„Der erste von vielen", erwiderte ich. „Das erste beste Ceili von vielen, die noch kommen werden."
Cora, Andre und einige andere Helfer waren schon fleißig dabei, den Hof zu dekorieren, er strahlte schon fast durch die vielen bunten Farben.
In den letzten Jahren hatte ich mich noch nie so auf das Ceili gefreut wie jetzt, ich war fast ein wenig aufgeregt. Wie vor einem ersten Date.
Wobei es das ja auch fast war, die letzten Wochen hatten wir, wenn wir zusammen waren, die meiste Zeit im Bett verbracht, manchmal mit Sex, manchmal mit Reden, manchmal auch einfach nur faul herumliegend. Das Ceili würde anders sein.
Vor der Wohnung hielt Joris mich noch kurz auf.
„Hm?", fragte ich, als er mich am Arm festhielt.
„Ich würde gerne unsere Session nachholen", sagte er. „Ich bin zwar aus dem Geschäft draußen, aber ... ich habe das Gefühl, dass ich diese Reinigung brauche, um wirklich damit abschließen zu können. Es gibt schließlich noch andere Dinge, für die ich büßen muss. Und ... ich hätte gerne Morgan, Enrique und Isabelle dabei. Wenn das für dich okay ist."
„Klar", sagte ich, obwohl er mich damit etwas überrumpelte. „Gleich heute? Die Suite ist gerade frei und erst übermorgen wieder belegt."
„Wenn die anderen nichts dagegen haben ... von mir aus sehr gerne."
Die Gedanken an Joris' Session hatte ich in der letzten Zeit komplett verdrängt, aber jetzt, wo er es erwähnte, spürte ich das Verlangen in mir aufsteigen.
Es war immer etwas anderes, mit jemandem zu spielen, für den man tiefe Gefühle hegte, als wenn es sich um ein einfaches Geschäftsverhältnis handelte.
Ich konnte es tatsächlich kaum erwarten. Die Frage war nur, welche Rollen Enrique, Morgan und Isabelle einnehmen sollten oder wollten. Aber auch das war reizvoll und eigentlich konnte es nur gut werden.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 11, 2022 ⏰

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