Kapitel 1

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Philip

Philip klappte den Deckel seines Laptops demonstrativ und mit einem Knall zu.
Das musste reichen!
Er hatte den Stoff drauf, hatte ihn eigentlich vor ein paar Stunden schon drauf gehabt.
Er hatte nur noch einmal drüber lesen wollen, jetzt waren doch wieder fast vier Stunden daraus geworden.
Die letzten Prüfungen waren geschrieben, wie immer würde er sie mit Bestnoten bestanden haben.

Die Doktorarbeit war abgegeben, sein Professor hatte sie hochgelobt.
Er musste nur noch durch das abschließende Colloquium, dann war das Medizinstudium Vergangenheit.
Er war zufrieden mit sich. Er war 25, in vier Wochen würde er seine Facharztausbildung zum Neurochirurgen am Klinikum beginnen.
Bis dahin würde er feiern, verreisen, das Leben genießen.

Er bewegte seinen steifen Nacken, machte Übungen für die verspannten Schultern.
Jetzt würde er das Bett frisch beziehen, die Wohnung saugen, duschen und sich auf die Jagd machen.
Er hatte bestimmt schon länger als zwei Wochen keinen Sex gehabt, heute Nacht brauchte er eine Frau.

Voll Vorfreude begann er, leise vor sich hin pfeifend, mit seinen Vorbereitungen. Als er die Flasche Champagner kaltstellte, grinste er.
Er war gespannt, mit wem gemeinsam er sie wohl leeren würde.

Mit Sandra, einer Medizinstudentin, zwei Semester unter ihm? Einem ganz hübschen Blaustrümpfchen, nicht sehr anspruchsvoll, aber willig im Bett?
Oder mit Babs, dem kleinen, drolligen Pummelchen, das ihn zwar zum Lachen, aber nicht gerade zum Abheben im Bett brachte?
Oder mit Charlotte, der Sexbombe mit den perfekten Formen, die aber für seinen Geschmack etwas zu fordernd beim Sex war?
Oder mit Sonja, dem Kumpeltypen, der Freundin aus Jugendzeiten, mit der er sich - für beide völlig überraschend - schon ein paar Mal recht erfreulich vergnügt hatte?
Oder mit der heißen Judith, die zwar schon etwas älter war, auf die dreißig zu ging, aber deshalb auch über eine gewisse Erfahrung verfügte, was auch kein Fehler war?
Oder mit Helena, der Unschuld vom Lande, die perfekt die Prüde spielte, aber eine ganz schöne Wildkatze werden konnte, wenn sie richtig auf Touren gebracht wurde?
Oder sollte er heute viel Glück haben, und die Zwillinge Maxi und Micha hatten wieder einmal Lust darauf, sich einen Mann für eine Nacht zu teilen?

Oder traf er eine neue, unbekannte Frau, die er umwerben, anbaggern, abschleppen konnte? Das wäre ihm am liebsten gewesen. Aber die Mädels machten es ihm immer so leicht, dass er gar nicht mehr richtig zum Jagen kam.
Er war frischgeduscht, hatte sich mit einer teuren Bodylotion eingecremt, vorsichtig rasiert, damit der Eintagesbart stehen blieb, etwas Aftershave aufgetragen. Seine immer etwas zu langen dunklen Haare waren genauso verstrubbelt, dass sie nicht unfrisiert aussahen. Noch wehrte er sich dagegen, sich eine von diesen hochrasierten und gegelten Herrenfrisuren anzutun, wie sie zur Zeit modern waren. Womöglich wurde es im Krankenhaus von ihm erwartet. Aber bis dahin sollten die Mädels ruhig etwas haben, in das sie sich krallen konnten, wenn sie kamen!

Grinsend schlüpfte er in die enganliegenden Jeans mit einer Waschung, die seine langen Beine noch länger erscheinen ließ. Das neue, knappe Shirt mit dem asymmetrischen Reißverschluss betonte seine Armmuskeln, seine breiten Schultern und ließen sein Sixpack erahnen.
Zufrieden mit seinem Spiegelbild schlüpfte er in teure Sneakers und verließ die Wohnung.
Es war zehn Uhr abends, seine Stammdisco würde schon gut besucht sein.

Sie

„Ich wünsche dir eine tolle Nacht!" sagte ER, und sein Gesichtsausdruck war boshaft wie immer, wenn ER diese Worte sagte. „Beeile dich! Julio wartet schon!"

Sie überwand sich, beugte sich zu ihm, drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange.
Wollte es zumindest.
ER packte ihren Kopf, erzwang sich einen Kuss auf ihre Lippen, seine Zunge forderte brutal Zugang zu ihrem Mund.
Lange hielten seine Schraubstockhände sie fest, lange pressten sich seine Lippen hart auf ihre.
Endlich gab ER sie frei, klatschte auf ihren Hintern. „Ab mit dir! Und vergiss die Spielregeln nicht, Baby!" rief ER ihr lachend nach, als sie fluchtartig das Zimmer verließ.
Wieder einmal fühlte sie sich gedemütigt bis aufs Blut, wieder einmal raste ihr Herz, wieder einmal brannten ihre Augen von den tausend ungeweinten Tränen.

Julio saß schon am Steuer der Limousine, machte keine Anstalten, ihren Koffer zu verstauen oder ihr die Beifahrertür zu öffnen.
Er sah sie anzüglich an, startete den Wagen.
Am Flughafen holte sie ihr Gepäck heraus, stiefelte zu der kleinen Cessna, die sie an ihr Ziel bringen würde.
Der Pilot war etwas respektvoller, half ihr wenigstens ins Flugzeug. Aber auch er sprach kein Wort mit ihr.

ER hatte sich dieses Mal für Regensburg entschieden, eine kleine Großstadt in Bayern mit einer bekannten Uni und einem recht aktiven Nachtleben.

Ein Taxi brachte sie nach der Landung zu ihrem Hotel. Dort behandelte man sie mit der Höflichkeit, nach der sie sich zu Hause immer sehnte. Sie wurde zur Suite gebracht, die ER für sie gebucht hatte.
Sie zog sich um, bummelte ein wenig durch die sommerlichen Straßen und Gassen, aß eine Kleinigkeit, genoss die seltenen Stunden der Freiheit.
Dann kehrte sie in die Unterkunft zurück, legte sich ein wenig hin. Sie musste fit sein für die Nacht.

Um acht Uhr stand sie auf, duschte, warf sich in ihr Outfit für den Abend, aß im Restaurant. Gegen zehn machte sie sich auf den Weg zu dem Club, den ER für sie ausgesucht hatte.

Sie schwankte zwischen Angst und Vorfreude, hoffte, sich heute gut zu entscheiden, die richtige Wahl zu treffen für diese Nacht.
Nicht, dass sie wieder so eine Katastrophe erlebte wie im vorletzten Jahr, als sie einen ganz hübschen Jungen an Land gezogen hatte, der leider vorher eine Line gezogen hatte und sie die ganze Nacht gerammelt hatte, ohne dass sie einmal gekommen wäre. Sie hatte am nächsten Tag kaum noch laufen können!

Letztes Jahr war es ganz gut gelaufen. Der Typ war nett gewesen, zuvorkommend, hatte auf ihre Bedürfnisse geachtet.
Gut, sein Ding war eher klein gewesen, aber er hatte viel mit Fingern und Mund von diesem Manko ausgeglichen.
Dann hatte sie den Club erreicht. Sie hatte Schlangen von Wartenden vor der Türe erwartet, aber es gab nicht einmal einen Türsteher.
Sie atmete noch einmal tief ein und betrat die Disco.


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