Philip
Philip saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand, streichelte ihr blasses, hageres Gesicht, das Gesicht, das für ihn einst das Schönste der Welt gewesen war, und das er noch immer liebte. Die Haut spannte sich über ihren Wangenknochen, war dünn wie Pergament.
Er hatte alle Übungen mit ihr gemacht, die die Therapeutin ihm gezeigt hatte.
Wenn sie wieder aufwachte, würden wenigstens ihre Muskeln einigermaßen funktionieren.
Seit einem knappen Jahr saß er hier, manchmal 20 Stunden am Tag.
Sprach mit ihr, las ihr vor, erzählte ihr Geschichten, wahre und erfundene.Manchmal schien sie zu reagieren, er war aber der einzige, der das spürte.
Er hatte gehofft, dass wenigstens die Kinder sie zurückholen würden, doch auch diese Hoffnung war gescheitert.
Nach dem Kaiserschnitt hatte er die Kleinen immer wieder auf ihren Bauch oder ihre Brust gelegt, hatte auf irgendeine Reaktion gehofft. Er hatte ihr die Namen der Babys gesagt, hatte sie gefragt, ob sie einverstanden wäre damit.
Er hatte sie angeschrien, sie geschüttelt, hatte sich wieder bei ihr entschuldigt, hatte stundenlang geheult, hatte unter Tränen gelacht.
Er hatte ihre Eltern geholt, doch sie hatten die Kraft nicht, ihre Tochter so liegen zu sehen.
Sie hatten auch keine Kraft, die Enkelkinder zu sehen.
„Sie hätte nicht gewollt, dass sie so lange da liegen muss, nur von Geräten am Leben gehalten!" Ihre Mutter hatte immer wieder mit ihm gestritten.
„Sie hätte leben wollen! Sie hätte mit ihren Kindern leben wollen! Sie ist nicht hirntod! Es gibt eine Chance!" hatte er eins ums andere Mal gebrüllt.
Nur ihr Bruder verstand ihn, unterstützte ihn. An allen freien Tagen fuhr er zu ihm, zu ihr, verschaffte ihm ein paar freie Stunden.Er lebte mit den Kindern in einem Zimmer im Krankenhaus. Er musste die Frau in ihrem Bett immer wieder verlassen, weil er sich mit den beiden abgeben wollte, mit ihnen spielen und schmusen wollte, mit ihnen im Kinderwagen spazieren fuhr.
Aber immer hatte er dabei ein schlechtes Gewissen.
Was, wenn sie gerade jetzt aufwachen wollte, und er war nicht da, um sie ganz zurückzuholen?Der Arzt kam ins Zimmer.
An seinem Blick sah Philip, dass er schlechte Nachrichten brachte. Oft und oft hatte er ihm Zeit abgetrotzt, abgekauft. Er hatte gespendet, geschrien, geheult, gebettelt, gefleht!Und immer wieder eine Woche mehr herausgeschlagen.
Eine Woche, während der er noch hoffen konnte!
Eine Woche noch, in der sie an jedem einzelnen Tag die Augen hätte öffnen können.
Sieben Tage jedes Mal, an denen sie ihn anlächeln konnte.
Er hatte seinen Job auf Eis gelegt, hatte sich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen.Er würde alles nachholen, alle Prüfungen machen, wenn sie wieder bei ihm war.
Aber nun stand der Arzt, der ein Freund geworden war, vor ihm und schüttelte den Kopf.
„Nein, Philip! Es tut mir leid! Ich konnte die Kollegen nicht noch einmal überzeugen! Morgen stellen wir die Beatmung ab!"
Philip brach zusammen, Jean-Pierre gab ihm eine Beruhigungsspritze.
Er konnte so sehr mit dem Freund fühlen, auch wenn er das als Arzt nicht sollte!Als Philip wieder zu sich kam, schreckte er von seinem Notbett hoch. Sein erster Blick fiel auf die Geräte.
Sie waren noch an, es war noch nicht zu spät!Er stürzte zu ihr, streichelte ihr Gesicht.
„Du musste jetzt aufwachen, Mädchen!
Du musst! Die Zeit läuft uns davon! Es gibt keine Alternative mehr! Morgen schalten sie die Beatmung ab!
Dann. Bist. Du. Tot!
Dann werden deine Kinder nie ihre Mutter erleben, dann wirst du nie deine Kinder sehen! Denn dann stirbst du! Verstehst du? Dann ist alles vorbei! Für immer!" schluchzte er.
„Annika! Wach auf! Es ist unsere letzte Chance!"Annika
Annika träumte.
Schöne Träume.
Schlimme Träume.
Schöne Träume.Da war ein Mann, ein toller Mann, ein richtiger Mann!
Der sie anflirtete, mit dem sie nach Hause ging, mit dem sie eine schöne Nacht verbrachte.
Bei dem sie blieb.
Ein paar himmlische Wochen lang.
Dann veränderte er sich. Kam immer später nach Hause, wurde launisch, ungeduldig mit ihr.
Sie war einsam, wollte gehen.
„Keine Frau verlässt mich! Ich brauche einen Erben! Wir werden heiraten!" sagte der Mann.
Er hieß? Wie hieß er nochmal? Felix! Genau!Dann ein Feuer! Ein fürchterliches Feuer!
Danach nur noch Schmerzen, Tränen, Bosheit!
Doch dann kam ein anderer Mann. Ein junger Mann.
Ein fröhlicher Mann.
Ein verdammt hübscher Mann.
Wo kam der denn her?
Er war zärtlich zu ihr, so zärtlich! Sie wollte ihn festhalten, doch er verschwand.
Wie hieß der Mann?
Sie würde ihn Philip nennen. Das klang hübsch, der Name passte zu ihm.Dann wieder der andere. Felix.
Er war böse.
Er war wütend.
Wieder Schmerzen.
Dann Dunkelheit.
Eine lange Nacht ohne Träume.
Eine Stimme.
Nicht Felix!
Nicht seine bösen Worte.
Eine liebevolle Stimme.
Sie klang aber traurig.War das Philip? Philip mit den strahlend blauen Augen?
Erinnerte sie sich?
Träumte sie?
Er redete mir ihr. Erzählte ihr Geschichten!
Sie freute sich darauf, dass er wieder kam. Es waren so schöne Geschichten.
Von Annika und Felix!
Von einer großen Liebe.
Von einer Liebe, die alles verzeihen konnte!
Seltsam, dass die beiden hießen wie sie und der böse Mann!
Aber vielleicht hatte es den bösen Mann gar nicht gegeben?
Vielleicht hatte es nur Annika und Felix gegeben, die sich so liebten, wie dieser Philip es ihr erzählte?Sie wollte das unbedingt glauben.
Sie wollte immer mehr hören: Von einem glücklichen Paar, das die Welt besser machen konnte, von Alaya und ihrer Familie, von Fabienne und ihrer Familie.
Fabienne? Wer war Fabienne?
Die Freundin, von Philip, der zärtlich zu ihr gewesen war!
Von Philip, der ihr so schöne Geschichten erzählte!
Aber sie wollte nicht, dass er von Fabienne erzählte!
Sie wollte nicht hören, wie schön sie war, wie perfekt, wie gut!
Sie wollte auch nichts von seinen Bettgeschichten mit dieser Frau hören!
Sie wollte nicht, dass er eine Freundin hatte!Aber er erzählte auch, dass sie alle vier gute Freunde waren.
Was sie alles zusammen machten, wie sie sich liebten, wie die Paare sich liebten.
Diese Geschichten gefielen ihr.
Aber warum saß Philip dann an ihrem Bett und nicht Felix?
Warum war er nicht bei dieser Fabienne?
Hatte er sie verlassen?
Wegen ihr?
Dann erzählte er ihr auch noch, dass sie schwanger wäre!
Dass sie Zwillinge erwartete!Er machte sich wahrscheinlich lustig über sie!
Es war sowieso alles etwas wirr, was er ihr da so berichtete!Hin und wieder schossen Erinnerungsfetzen durch ihr Gehirn.
Waren es echte Erinnerungen oder nicht?
Seine Stimme erzählte alles ganz anders!
Sie erinnerte sich an diesen Felix, wie er sie fertig gemacht hatte, wenn sie den aufgeblasenen Damen der besseren Gesellschaft Kontra gegeben hatte.
„Du kannst dich nicht aufführen wie ein verzogenes Gör!" hatte er sie auf dem Heimweg angeschrien. „Als meine Frau musst du endlich mal lernen, dich zu benehmen!"Philip dagegen erzählte ihr, wie stolz Felix auf sie gewesen war, wenn sie sich schlagfertig wehrte!
Sie erinnerte sich an Felix, der sie brutal genommen hatte!
Philip erzählte von zärtlicher, hingebungsvoller Liebe!
Das passte alles nicht!
Sie musste aufhören zu träumen!
Sie musste aufwachen!
Aber sie war so müde!
Morgen!
Morgen würde sie aufwachen und Philip nach allem fragen, was sie nicht verstand!
Vor allem, wo denn Felix war!
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Wahrheit oder Traum
RomancePhilip, angehender Neurochirurg, will es nach dem Studium ordentlich krachen lassen. Die Auswahl an Frauen ist groß für den gutaussehenden Kerl mit den blauen Augen. Sie ist auf der Jagd in Philips Stadt. Sie muss einen Mann für eine Nacht finden...