Kapitel 79

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Felix

Als er ihren Brief in Händen hielt, verließ ihn wieder der Mut, ihn zu öffnen. Er trug ihn schon seit ein paar Tagen mit sich herum.

Plötzlich wusste er, dass er das nicht alleine schaffen würde, und er hatte gelernt, seine Schwächen einzugestehen, damit umzugehen.
Er textete Estelle. Sie telefonierten nie, keiner von beiden wusste eigentlich warum, aber das hatte sich so eingeschliffen.
Er: Kann ich dich sehen?
Sie: Warum?
Er: Ich brauche deine Hilfe!
Sie: Wobei?
Er: Annika hat auf meinen Brief geantwortet! Du musst vor mir lesen, was sie geschrieben hat! Ich kann das nicht alleine!
Sie: Du hast ihr einen Brief geschrieben?
Er: Ja, ich habe sie um Verzeihung gebeten!

Ihre Antwort kam erst ein paar Minuten später.
Sie: Wow, Vanderberg! Das war cool! Und mutig! Hätte ich nicht von dir erwartet!
Er: Kann ich vorbei kommen?
Sie: In mein 25 Quadratmeter-Appartement?
Er: Ja! Bitte!
Sie: Okay!
Sie textete ihm die Adresse.
Er: Danke!
Sie: Bitte, Vanderberg!

Wenig später parkte er vor dem Haus, in dem sie wohnte. In dieses Viertel hätte er früher keinen Fuß gesetzt.

Sie erwartete ihn an der offenen Wohnungstüre. Er hätte sie gerne zur Begrüßung geküsst, aber soweit waren sie bisher noch nicht gekommen. Eine neue Erfahrung für ihn! Noch eine!

Sie trug eine ausgewaschene Jeans und ein labbriges Shirt. Mittlerweile hatte er sich an ihren für ihn etwas ungewohnten Kleidungsstil gewöhnt. Er achtete schon längere Zeit nicht mehr so sehr auf Äußerlichkeiten.

Er sah ihre großen grünen Augen in dem eher unscheinbaren Gesicht, die so sehr leuchten konnten, wenn ihr etwas gefiel. Und er sah in ihr großes Herz, hoffte, dass sie auch in seines sehen konnte.

Noch waren sie so etwas wie Freunde.
Er wusste, dass er ihr gefallen könnte, dass sie ihm aber noch immer nicht traute. Sie kannte jedes noch so schmutzige Detail aus seinem Leben, er hatte nichts vor ihr verheimlicht.

Und nun war er dabei, sich in sie zu verlieben. Bei jedem Treffen ein bisschen mehr.

„Hallo, Vanderberg!" begrüßte sie ihn. „Hat dein Navy nicht gestreikt, als du meine so gar nicht noble Adresse eingetippt hast?"
Er grinste schief. „Ein wenig verschluckt hat es sich schon!"
„Gut!" meinte sie nur.

Auf dem Tisch stand eine geöffnete Flasche billigen Rotweins, zwei Gläser, Knabbersachen.
„Na, du hast dich ja ganz schön ins Zeug gelegt für mich!" zog er sie auf.
„Halt die Klappe, Vanderberg! Der Kaviar war aus!" konterte sie. „Jetzt quatsch mir kein Ohr ab! Gib mir den Brief!"

Sie verzog sich in ihr winziges Schlafzimmer, öffnete das, was ihm solche Angst machte und las.

Lieber Felix –

nicht der, der du warst, sondern der, der du wohl heute bist.
Du bittest sehr eindringlich um meine Verzeihung.
Ich hätte nie geglaubt, dass du dazu fähig sein würdest, und ich habe auch nie geglaubt, dass es mir möglich wäre, sie dir zu gewähren.
Ja, Felix, der du heute bist - ich verzeihe dir.
Du bist gestraft genug mit dem Leben, das zu führen dich das Kokain gezwungen hat. Niemand sollte über einen anderen den Stab brechen, der nicht in einer solchen Situation gewesen war.
Aus irgendeinem Grund glaube ich dir die Worte, die du geschrieben hast.
Dass du deine Stiftung nach unseren Kindern benannt hast, ehrt mich ein wenig. Du weißt, dass ich immer eine sozialistische Ader hatte, und dass du im Namen unserer Zwillinge Gutes tun willst, ehrt uns alle.
Ich wünsche dem neuen Felix ein glückliches Leben, vielleicht an der Seite dieser frechen Frau.
Ich hoffe von Herzen, dass du ihrer Klappe niemals gewachsen sein wirst.
Das mit der Eheannullierung ist im Moment kein Thema für mich. Ich glaube nicht, dass ich noch einmal heiraten werde.
Also, mach's gut, fremder Mann, und achte darauf, den alten Felix Vanderberg da zu lassen, wo er hingehört: Begraben in der Vergangenheit, begraben von Vergessen!
Annika

Der Inhalt gab Estelle zu denken. Sie wusste nicht, was Felix geschrieben hatte, konnte es anhand der Antwort seiner Ex-Frau aber erahnen. Er war ganz gewaltig über seinen Schatten gesprungen. Aber sein Ego war ja schon ziemlich geschrumpft, der Schatten, über den er springen musste, war also auch nicht mehr so riesig wie früher.

Sie hatte ziemlich schnell begriffen während ihrer Arbeit mit ihm, dass es sich lohnen könnte. Dass der Kerl, der sich hinter Arroganz und Sucht versteckte, ganz in Ordnung sein könnte.
Nichts für sie natürlich, dafür war er auch nach dem Heilungsprozess eine Nummer zu groß. Aber für eine andere Frau, eine aus seinen Kreisen, konnte er durchaus der Mann fürs Leben werden.

Er sah ihr angestrengt entgegen, als sie zurückkam. Sie wollte ihn nicht auf die Folter spannen.
„Sie hat dir verziehen!" sagte sie und hielt ihm den Brief hin.

Er riss ihn ihr aus der Hand und verschlang die Buchstaben, während er die Luft anhielt. Und dann tat Felix Vanderberg etwas, das er schon Jahrzehnte nicht mehr getan hatte: Er heulte wie ein Schlosshund.
Estelle ließ ihn gewähren. Etwas rührte sich in ihrem Herzen, als sie den noch immer sehr gut aussehenden Mann wie ein Häufchen Elend auf ihrem zerschlissenen Sofa sitzen sah.
Etwas, das da nicht hingehörte in dieses Herz, dieses verdammt dumme Herz.
Nein! Sie. Würde. Sich. Nicht. Verlieben.

Sie schenkte ihm ein Glas Wein ein. „Trink, Vanderberg! Hilft gegen Schluckauf!"

Dankbar nahm er das Glas entgegen, leerte es in einem Zug.
„Langsam! Langsam!" mahnte sie. „Nicht, dass wir ein Alkoholproblem therapieren müssen."
Er grinste schief. „Der Wein ist so grässlich, den kann man nicht langsam trinken!"

Zusammen lachten sie sich Schmerz und Angst von der Seele.
„Du bist immer noch ein Snob, Vanderberg!" maulte sie ihn an.
„Nein, bin ich nicht! Aber meine Geschmacksnerven sind eben noch immer voll entwickelt! Nicht so verkümmert wie deine!" konterte er.

Ein Wort gab das andere. Sie zogen sich auf, lachten, bis sie Bauchschmerzen hatten. Sie aßen die Schalen mit den Knabbersachen leer, tranken den billigen Wein, der ihm mit jedem Schluck besser schmeckte.

Es war lange her, dass er sich so wohl gefühlt hatte.
Das war wohl auf der Feier gewesen, die sein Vater für Geschäftsfreunde anlässlich seines guten Abiturs ausgerichtet hatte, als er ihn allen mit vor Stolz leuchtenden Augen als seinen Nachfolger vorgestellt hatte.

Doch am nächsten Tag hatte das Wohlgefühl ganz schnell nachgelassen, als sein alter Herr am Frühstückstisch angemerkt hatte: „Aber ich dulde nicht, mein Sohn, dass du dich auf deinen Lorbeeren ausruhst! Ich erwarte einen ähnlich guten Abschluss an der Uni! Alles andere wäre eine Schande für den Namen Vanderberg!"

Estelle fühlte, wie seine Gedanken wieder in die Vergangenheit abdrifteten.
„Lässt du dich schon wieder von dem alten Sack nerven?" fragte sie, klang aber nicht so aggressiv wie sonst.

Er schüttelte die Gedanken aus dem Kopf.
„Ich habe nur nachgedacht, wann ich mich zuletzt so wohl gefühlt habe!" gestand er.
Und wieder musste Estelle ihrem Herzen schlimmste Strafen androhen, damit es endlich aufhörte, diese schnellen Zwischenschläge einzulegen.

Er drehte den Kopf zu ihr, ihre Augen hängten sich an seinen fest. Seine Hand wanderte übers Sofa, fasste nach ihrer.
Nein! brüllte ihr Gehirn. Ich werde nicht auf deiner Abschussliste stehen, nur weil dir heute ein wenig wehmütig zumute ist! Unsere Welten passen nicht zusammen!

Sein Daumen streichelte ihren Handrücken. Zart, sanft, ohne irgendetwas zu fordern oder zu erwarten.
Einzig und alleine aus dem Grund, weil er zärtlich sein wollte.
Lange saßen sie da, schweigend, die Nähe genießend, die unschuldigen Berührungen.

Dann sprang er auf. „Rufst du mir ein Taxi?" fragte er. Auch eine Neuerung in seinem Leben.
War er überhaupt schon einmal mit einem Taxi gefahren? Er konnte sich nicht erinnern.
Sie sah ihn nicht an, als sie vorschlug: „Du kannst aber auch auf dem Sofa schlafen!"

„Danke, Estelle! Aber, danke nein!" Er strich mit dem Daumen leicht über ihre Wange. „Ich komme wieder! Denn du musst dich damit abfinden, dass ich um dich werben werde!"

Um seinen Augen zu entkommen, wählte sie die Nummer der Taxizentrale.
„Vergiss es, Vanderberg! Such dir eine Frau, die zu dir passt!" knallte sie ihm dann hin.
„Ich hab sie doch schon gefunden!" antwortete er nur und zog die Wohnungstüre hinter sich zu.


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