Kapitel 17

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Annika und Felix

Er stemmte sich aus dem Rollstuhl aufs Sofa, sie setzte sich neben ihn. Ernst sah er sie an, prüfte ihren Blick, suchte nach Ekel oder Abscheu in ihnen, fand aber nichts davon.
„Was ist dieses Mal geschehen? Du bist verändert zurückgekommen!" fragte er schließlich leise.

Sie wich seinem Blick nicht aus, suchte aber nach Worten, um es ihm zu erklären.

„Ich glaube, dieses Mal hätte ich mich verlieben können! Hätte er sich in mich verlieben können! Und im Unterbewusstsein fühlte ich, dass ich dann alles daransetzen würde, dich zu verlassen. Ich hatte schon Pläne geschmiedet, hatte mir das Handy besorgt, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Habe Kontakt mit ihm aufgenommen."

Wieder hielt sie ihm das Handy hin. Er schüttelte den Kopf, warf das Ding in eine Ecke des Sofas.

„Aber?" forderte er sie auf weiterzusprechen.

„Aber? Dann habe ich gespürt, dass ich dich nicht verlassen will, dass die Hölle mit dir immer noch besser ist als der Himmel ohne dich!" fuhr sie fort. „Dann habe ich gespürt, dass es unsinnig ist, sich zu verlieben, wenn man doch schon liebt!"

Felix liefen die Tränen übers Gesicht. Er zog sie zu sich, bettete ihren Kopf auf seinen Schoß.

Er zeichnete ihr schönes Gesicht mit den Fingern nach, wie er es früher immer geliebt hatte zu tun.
So waren sie unzählige Male gesessen – hier oder in Berlin – hatten Pläne geschmiedet, über den Tag gesprochen, gelacht, geküsst.

„Wenn du dich ernsthaft verliebt hättest, hätte ich dich gehen lassen!" versicherte er, wischte die Tränen aus seinem Gesicht. „Deshalb habe ich dich eigentlich immer weggeschickt, damit du eine neue Liebe findest und mich verlässt! Aber du bist immer wieder zurückgekommen, was mich hätte glücklich machen sollen, was mich aber noch wütender gemacht hat!"

Sie redeten die halbe Nacht, er entschuldigte sich tausend Mal für alles, was er ihr angetan hatte. Jede einzelne Grausamkeit war in seinem Gedächtnis abgespeichert, für jede einzelne Boshaftigkeit flehte er um Vergebung.

„Seit ich dir das Messer in die Hand gerammt habe, war ich eigentlich fertig mit mir. Ich wollte nicht mehr! Ich konnte nicht mehr! Ich habe nur noch nach einem Weg gesucht, das alles zu beenden! Mit diesem Menschen, der ich geworden war, wollte ich nichts mehr zu tun haben!"

Seine bedingungslose Ehrlichkeit ließ Annika vergessen. Sie hatte nicht gehofft, dass sie ihren Mann so schnell, so vollkommen zurückbekommen würde, hatte eher an kleine vorsichtige Schritte gedacht, die sie zusammen gehen wollten.

Aber er hatte die Befreiung von seiner Schuld, ihre Vergebung so herbeigesehnt, dass sich eine Schleuse geöffnet hatte. Alles Elend auf beiden Seiten wurde von Strömen an Tränen fortgespült. Schneller als beide je erwartet hatten, waren sie sich so nah gekommen, wie sie es vor dem Unfall gewesen waren.

Er dachte nicht mehr an seine Narben, weil er ihre Blicke auf sich fühlte, die nicht anders waren als früher.

Sie dachte nicht mehr an die Narben in ihrer Seele.
Er küsste während des ganzen Gespräches ihre verletzte Hand, streichelte ihr blaues Auge, das letzte in einer langen Reihe, als könnten seine Hände und Lippen die Spuren seiner Unbeherrschtheit fortlieben.
Aber er wusste, dass das nie gelingen würde, nicht bei ihm. Diese Schuld, diesen Ekel vor sich selbst würde er zeit seines Lebens mit sich herumtragen.

Doch wieder stellte er diese beiden Fragen nicht: „Woher hattest du das Koks? Warum hast du es gerade an diesem perfekten Tag genommen?"

Die Vergangenheit sollte ruhen. Er hatte tausend Fehler gemacht, sie einen einzigen. Den ersten hatte er an diesem verhängnisvollen Tag begangen.
Er hatte ein paar Gläser Champagner getrunken, hatte alle eindeutigen Zeichen bei ihr zwar bemerkt, aber er hatte sie ignoriert.
Aus Bequemlichkeit?

Weil er keine Auseinandersetzungen wollte mit ihr?
Weil er ins Bett wollte mit ihr?
Sie hatte einen Fehler gemacht, aber sie war 19!
Er hatte einen Fehler gemacht, und er war 41! Sein Fehler wog doppelt so schwer! Mindestens!

Um drei Uhr morgens waren sie vollkommen ausgelaugt, aber so glücklich wie seit fünf Jahren nicht mehr.
Ihre Liebe, die vor dem Unfall erst ein paar Monate angedauert hatte, hatte die ganze schreckliche Zeit überlebt.
Es war eigentlich kaum zu glauben, aber es war so.

Das junge Mädchen und der erwachsene Mann hatten keine Liebelei gehabt, wie viele unterstellt hatten, es war wirklich Liebe gewesen, und es würde wieder Liebe sein!

Das wussten sie beide.
„Bleibst du heute Nacht bei mir?" fragte er leise, als er bemerkte, dass sie zu Tode erschöpft war.
„Natürlich!" antwortete sie, überglücklich über diese Frage.
„Lässt du.... lässt du mir etwas Zeit, bis ich im Bett liege?" Es war ihm unangenehm, dass sie sein mühevolles Prozedere des Zurechtmachens für die Nacht miterleben sollte.

Außerdem waren die Narben an seinem Körper so schlimm, dass er sie ihr nicht gleich in der ersten Nacht zumuten wollte.

Sie versenkte ihre Blicke in seine. „Nein!" sagte sie, und er verstand.
Es machte ihr nichts aus, dass er sich ungeschickt ausziehen musste, dass er sich an den Armen ins Bett hieven musste, dass sein Körper entstellt war.

„Danke!" antwortete er und wusste, dass jede andere Antwort von ihr falsch gewesen wäre.
Sie mussten den Neuanfang machen als die Menschen, die sie heute waren.

Vollkommen frei von irgendwelchen Schamgefühlen machte er sich vor ihren Augen für die Nacht zurecht. Dann kuschelte sie sich an ihn, er hielt sie in den Armen. Die Tränen liefen wieder, er schniefte sie weg, versuchte es zumindest. Sie suchte etwas auf dem Nachttisch, reichte ihm ein Taschentuch.

„Heul ruhig, mein Hübscher! Manchmal dürfen auch Männer weinen!" sagte sie, und er hörte die Liebe, die er den ganzen Abend in ihren Bernsteinaugen gesehen hatte, in ihrer Stimme.

„Ja! Wenn sie vor Glück die Tränen nicht mehr zurückhalten können!" antwortete er.

Dann musste er noch eine letzte Frage loswerden. „Willst du ihm Bescheid geben?"
Sie wusste zuerst nicht, was er meinte. „Wem?"
„Philip!" antwortete er.
„Ach ja! Sollte ich vielleicht! Ich denke, ich schreibe ihm morgen einen Brief!" Sie war schon fast eingeschlafen.
„Ja! Das machst du!" stimmte er zu und genoss es, in den Schlaf zu gleiten mit ihr im Arm. Seinem tapferen, wunderschönen Schmetterling mit einem Herzen so groß wie Europa! Mindestens!

Etwas überrascht stellte er noch fest, dass sich in seinen Shorts etwas regte. Umso glücklicher schlief er ein.


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