Prolog

92 3 0
                                    

Welche Bedeutung hatte Zeit an einem Ort, an dem sie stillstand? Wenn Momente sich immer weiter ausdehnten und zu Monaten wurden, verlor diese physikalische Größe an Wert. Es erschien mir lächerlich, wie lange ich vor meinen Häschern geflohen war, denn trotz der einstigen Freiheit war ich nie frei, sondern ständig auf der Flucht. Ich lebte immer in der Angst, eines Tages auf meinem Schöpfer zu treffen. In der Vergangenheit gab es einen winzigen Moment, indem in mir die Hoffnung entflammte. Dieser kleine Funke, in der ewigen Dunkelheit trug ein helles Lachen, die Note eines blumigen Parfüms und dunkelgrüne Augen, wie das Blätterdach eines Waldes im Frühling. Dann wenn sich die Natur aus dem Winterschlaf erhob und in einem Glanz erstrahlte, welcher mich immer wieder zum Staunen brachte. Ich hatte das Glück erhalten, erneut mit Yasmin zusammen zu kommen, doch wurde ich ihr wieder entrissen. Nicht einmal ein halbes Jahr hatte uns das Schicksal gewährt. Welche kosmische Kraft hatte die Gewalt über mein Dasein? Oder war ich der Pflock zwischen den Schicksalsrädern? Diese eine Person, die alles ins Wanken brachte? Die ungleiche Gleichung in einem Universum, das sich nicht um Wesen scherte, welche nicht von ihm erschaffen wurden? Man hatte mir alles genommen, was ein Lebewesen ausmachte, einschließlich der Besitz eines eigenen Körpers. Nur meine Seele war mir geblieben. Sie füllte den leeren Raum um mich herum aus. Völlig inhaltslos war der Ort an dem ich verweilte nicht, wie die einzelnen Türen meiner Vergangenheit vor mir aufzeigten. Wie ein paar Monate zuvor, die mir wie Jahre vorkamen, in denen Yasmin und ich aneinandergerieten, hielt sich meine Wenigkeit an dem einzigen Rückzugsort im unendlichen Nichts des Runensteines auf. Erneut war ich die Gefangene des Schwarzmagiers, den ich vor unzähligen Jahren entkam. Sein Name war mir nach wie vor unbekannt, obgleich er mir in der Menschenwelt so viele schlaflose Nächte bereitete. So ruhig meine Persönlichkeit sonst war, erweckte die Situation, in der ich mich befand einen fieberhaften Wahnsinn. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit zerfraß meine Seele. Hätte ich einen Körper, würde ich verzweifelt schreien und um mich schlagen wie ein Kleinkind. Mein Körper wäre erfüllt von Wut und Frustration und ich würde sie rauslassen, wie die unzähligen Male in denen ich mit meinen Eltern aneinandergeriet und davonlief. Stattdessen hüllte mich der Ort in ewiger Stille. Diese Lautlosigkeit war ohrenbetäubend, im Gegenteil zur vertrauten Großstadt. Ich vermisste die befüllten Straßen, die lauten sich überschlagenden Wortfetzen der Passanten in Kaufhäusern wie das Alexa am Alexanderplatz. Selbst die schrillen Sirenen eines Krankenwagens wären zum gegenwärtigen Zeitpunkt Musik in meinen Ohren. Diese geräuschlose Kulisse brachte mich um den Verstand, doch eine Flucht aus dem Runenstein, war unmöglich. Das Areal außerhalb meiner Erinnerungen war unendlich lang und düster, meine geistige Energie hingegen schien jedoch begrenzt zu sein. Es war wie gegen eine Barriere zu laufen nur ohne Körperform. Ich war seit meiner Ankunft in den wildesten Gedankengängen verstrickt und alle endeten in einer ausweglosen Panik. Es gab keinerlei Entkommen von diesem Ort. Ich war gefangen. Verdammt dazu mit meinen sich schwindelhaft kreisenden Gedanken allein zu sein. Abgeschottet, isoliert und mit einer Blockade, die es mir unmöglich machte mit Yasmins Geist in Kontakt zu treten. Das Bewusstsein darüber, dass ich ihr nicht sagen konnte, dass ich am Leben war, irgendwie zumindest, zermürbte mich. Was wenn sie annahm, ich wäre tot? Oder mich suchte und eines Tages einsah, dass ich es nicht Wert war, es die ganze Zeit über nicht war. Das ich voller innerer Dämonen erfüllt war, die mich wie Dementoren jagten und in den Abgrund zogen.

Unvorbereitet vernahm ich ein gleißendes Licht. Lider flackerten hektisch auf, doch ich kniff sie sofort wieder zusammen. Der kleinste Funken Helligkeit trieb mir die Tränen in die Augen und brannte, als hätte man Salz in ihnen gestreut.
»Endlich. Endlich seid ihr wieder zuhause. Meine schönsten und vollkommensten Wesen. Endlich.« Eine euphorische melodische Stimme überschlug sich vor Freude. Es war die des Schwarzmagiers und ich zog geräuschvoll die Luft ein. Ein eiskalter Windzug huschte über meinen Körper und mich traf die Erkenntnis, dass ich nackt war. In diesem Moment, in dem mir die Lage ins Bewusstsein trat, fiel in mir alles zusammen wie ein Kartenhaus. Aus vollster Kehle schrie ich hysterisch und erschrak vor mir selbst. Meine Stimme klang fremd, hoch und deutlich heller. »Shay beruhige dich. Bitte« , äußerte sich ein weiteres, unbekanntes Stimmchen. Panik flutete mein Innerstes vollständig und ich wand mich hin und her. Zumindest so wie es die Metallfesseln um das Handgelenk zuließen. »Ich bin es Dummerchen, Zeynel«, schob die Stimme hinterher und ich öffnete meine schmerzenden Augen erneut. Dieses Mal brannte das Licht nicht in ihnen, doch nun wurde mir mit einem Schlag die ganze Misere bewusst. Zeynel hatte einen neuen Körper. Sein dunkelbrauner Haarschopf wich einem kahlrasierten Schädel und seine sonstigen ebenfalls brauen Augen, wirkten hervorstechender. Die Farbe hatte sich zu einem blaugrau verwandelt und sein nun erwachsener Köper kam mir abgemagert vor. Meiner fremden Stimme nach zu urteilen steckte ich ebenfalls in einem neuen Gefäß. Zeynel ist hier.
Ein winziger Tropfen namens Trostes fiel auf mein wild pochendes Herz nieder und verdampfte sofort. Was geschah jetzt mit uns? In sich gekehrt sah der Gefangene neben mir zu Boden. Keine Mitglieder der Sekte waren weit und breit zu sehen. Nur Zeynel, der Schwarzmagier und ich waren in diesem leeren Verlies. Das Licht einzelner Fackeln warf die Schatten unserer Körper an eine Wand aus einem schwarzen Stein, der an Turmalin erinnerte, und doch eine andere Struktur aufwies und die Stimme des Magiers ertönte erneut. »Ich hoffe die letzten, fünf Wochen Isolation, haben euch zur Vernunft gebracht. Ihr seid meine Schöpfung und ich dulde es nicht, dass ihr mir auf der Nase herumtanzt. Aber wenn ihr mit mir kooperiert, verzeihe ich euch die jahrelange Flucht.« Wenn ich von Yasmin eines gelernt hatte, dann war es hin und wieder, in den denkbar dümmsten Momenten Rot zu sehen. »Kommen Sie bitte etwas näher? Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen«, lockte ich daher scheinheilig und setzte ein reumütiges Gesicht auf. Wider Erwartens trat der in einer schwarzen Kutte gehüllte Mann auf mich zu. »Alles was du willst meine Schöne. So gütig bin ich zu dir, trotz allem was war.«
Er beugte sein Kopf zu mir hinab und ich spuckte ihm all die Verachtung aus meinem Herzen ins Gesicht, wobei meine Stirn krachend gegen die des Schwarzmagiers flog. »Niemals werde ich mit Ihnen kooperieren! Sie haben uns im Kindesalter getötet und zu Kriegswaffen erkoren! Außerdem habe ich schon ein zuhause und das liegt draußen in der Freiheit!« Der Magier verzog keine Miene, während er sich die Spucke von der rabenartigen Nase wischte und einen Schwall an Beleidigungen über sich ergehen ließ. »Ich wünschte, du hättest klüger gewählt, jetzt müsst ihr beide eure Zeit in der Freiheit wohl oder übel vergessen müssen.« Das Wort vergessen betonte er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, was mich stützig werden ließ. Was hatte dieser Wahnsinnige bloß vor? Ich erfuhr es schneller, als mir lieb war, denn der Schwarzmagier zog aus der Seite seiner Kutte einen immer länger werdenden pechschwarzen Stab. Eine violette und nachtblaue Materie umgab den Knauf. Beim genaueren Hinsehen erkannte ich, dass in den Farben Sterne erstrahlten. Eine kleine Galaxie umrundete den Griff. Wäre die Situation eine andere, würde ich meinen Blick gar nicht mehr von der Schönheit dieses Gegenstandes abwenden. Doch in dem Moment, in dem eine fremde Sprache aus dem Mund des Magiers ertönte und der Stab meinen Kopf berührte, legte sich ein dichter Nebel über der Heimat des Verstandes. Kein Flehen und Betteln half mir dabei, dass er aufhörte, darum klammerte ich mich wie eine ertrinkende an Yasmins und meine erste Begegnung. Nicht die aus dem 14. Jahrhundert, sondern die in diesem Leben. Wie ich in die neue Klasse kam und sie nicht direkt wiedererkannte. Trotz meiner feindseligen Art hatte mich Yas angesehen als würde, das Universum einen kurzen Moment für sie stehen bleiben. Dann wich diese Erinnerungen, dem Gefühl von Traurigkeit. Was hatte ich denn ohne ihr und den Hateful and Loveable Creatures? Meinen Eltern waren nur mit sich beschäftigt und Freunde hatte ich keine weiteren. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Und jetzt, wo allmählich meine Erinnerungen nach und nach schwanden, erkannte ich trotz der Wiedergeburten immer noch das eingeschüchterte Mädchen zu sein, das von seinen Eltern verkauft wurde. 

Hateful and Loveable Creatures 2- Die Zeitstadt (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt