Kapitel 1 Jedes Ende ist ein neuer Anfang

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Zeit ist etwas so Kostbares. Sie ist nicht käuflich wie einige Menschen. Der Zeit ist es egal, ob dein Konto milliardenschwer ist, oder ob du gar kein Geld besitzt. Du hast entweder die Möglichkeit dazu, deine Zeit zu genießen und sie auszukosten oder sie mit belanglosen Dingen zu verschwenden. Solche Dinge, die wenn es eines Tages darauf ankommt, kurz vor dem Ende einer Existenz, dass Gefühl gibt Zeit wie Geld verzockt zu haben. Eine einzelne Sekunde mit einem geliebten Menschen vermag wertvoller zu sein als alle Rohstoffe dieser Welt vereint. Vor einiger Zeit hatte ich viele dieser bedeutsamen Momente mit jemanden geteilt. Jene Erinnerungen an diesen Menschen waren das bunte Mosaik meiner Seele. Die kleinen schillernden Splitter setzten meine Vergangenheit zusammen, machten mich für einen kurzen Zeitraum zu der glücklichsten Frau auf der Welt. Heute wünschte ich mir, ich dürfte nur einen weiteren Moment mit ihr verbringen. Für eine einzelne Sekunde, in der ich mit meinen Fingerspitzen über ihre Grübchen fuhr, wenn sie lächelte, würde ich alles nur Erdenkliche tun. Doch ich konnte es nicht. Vor Jahren hatte mir meine Unwissenheit und Neugier einen Strick geknotet, aus dem sich mein Kopf nicht mehr herauszuwinden vermochte. Es war damals so vieles Geschehen, für das ich rückblickend verantwortlich war. Ich wollte bloß herausfinden, woher meine seltsamen Träume kamen. Träume meiner Vergangenheit, die nicht zu mir gehören konnten. Heute war ich mir bewusst darüber, wer ich war und woher meine damaligen Träume herrührten. Trotzdem hatte ich das Gefühl einen Teil von mir verloren zu haben. Einen Teil, den ich erst in diesem Leben wiedergefunden hatte. Man könnte meinen, dass der Schmerz eines Verlustes einen über die Jahre hinweg verließ, doch dem war nicht so. Ich hatte nicht mehr, dass Gefühl jede Nacht ein kleines bisschen zu sterben, wie in der Zeit nach dem Ende des Kampfes gegen Diego. Nach diesem hatte uns der Schwarzmagier, welcher Shay und Zeynel erschuf, überrascht und die beiden entführt. Egal, was ich tat, ich konnte den Verlust meiner Freundin nie verarbeiten. Ich zog scharf die Luft ein, denn heute fiel es mir schwer, meine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Trotz all der vergangenen Zeit prasselten hin und wieder, die Gefühle für sie auf mich ein. In diesen Momenten hatte ich die Emotionen kaum im Griff und meine Augen brannten verdächtig. Tränen für Shay hatte ich schon lange keine vergossen und gestattete es mir nicht mehr. Stattdessen betrachtete ich meine Kommode, die ich vorletztes Jahr zusammen mit Elli in einem Pastellblau angestrichen hatte. Sie sagte mir, dass wenn meine Gedanken schon so düster waren, sollte wenigesten unsere gemeinsame Wohnung hell erstrahlen und mir einen Ort geben, an den ich ein Gefühl der Geborgenheit bekam. Auf der Kommodenablage hatte ich, wie meine beste Freundin meinte, einen kleinen Schrein errichtet. Ich widersprach ihr in dieser Hinsicht ständig, doch wenn ich ehrlich war, hatte Elli recht damit. Das ein oder andere Bild von Shay zierte meine Kommode, denn ich hatte Angst, ich vermochte jemals ihr Gesicht zu vergessen. Neben den Bildern von ihr gesellten sich eine Reihe Fotos von Freunden und Familie, damit mich kein Frauenbesuch darauf ansprach, warum ich Fotografien von meiner Exfreundin aufbewahrte. Eine der unangenehmsten Momente hatte ich vor einiger Zeit, in der eine Bekanntschaft ihr Gesicht auf den Bildern wiedererkannte. Shays damaliges Verschwinden schlug hohe Wellen. Schließlich feierte eine Jugendliche mit ihren Freunden Silvester und kam nicht zurück. Offiziell hieß es, dass eine heranwachsende Frau von zuhause Reißaus genommen hatte. Zwar hatten sich ihre Eltern ständig gestritten, doch da Zeynel ebenfalls verschwunden war, sprach man schon bald von einer Entführung der beiden. Das war letzten Endes die Wahrheit. Shay und Zeynel wurden entführt. Entweder in eine andere Dimension oder im schlimmsten Falle in ein anderes Universum. Es gab eine Zeit, da klammerte ich mich an jeden winzigen Grashalm, denn die Hoffnung auf ein Wiedersehen war zu groß. Diese Zeit war längst Geschichte. Shay und Zeynel waren fort und kamen nie wieder zurück. Nur widerwillig hatte ich es gelernt zu akzeptieren. Um weiter unter den Lebenden zu weilen, war es erforderlich, nach vorne zu schauen. Weg von einer verschollenen Exfreundin oder seltsamen Kreaturen, die hinter mir her waren. Apropos: Die Hateful and Loveable Creatures hatten sich aufgelöst. Nach dem Abitur trennten sich die meisten Wege. Nur Francis, Elli und Lizzy hatten Berlin nicht verlassen. Bis auf Elli hatte ich mit den anderen nichts mehr zu tun. Susanoo und ich hingegen lebten mittlerweile im selben Bezirk. Er hatte den Lehrerberuf an den Nagel gehängt und betrieb eine kleine Bar in Neukölln. Wir hatten häufig Kontakt. Obwohl das wäre untertrieben. Nach meinem Abschluss beschäftigte er mich als Barkeeperin in seiner Bar, die den schlichten Namen Trinkbar trug. In meiner Schulzeit wusste ich nie, was ich später arbeiten wollte, aber nachdem ich die ersten Drinks gemischt hatte, wurde mir klar, dass diese Bar ein Ort war, an dem ich mich wohlfühlte. Ein Schmunzeln breitete sich auf mein Gesicht aus bei der Erinnerung daran, wie Susanoo mir sagte: »Du kannst weiterhin bei den Eltern leben und dich dort zurückziehen, oder du fängst hier an und findest wieder zurück ins Leben.« Nach diesen Worten hatte er mir gutmütig meinen selbstgemischten Mojito zurückgeschoben und ich hatte diesen nachdenklich ergriffen. Ich ging darauf ein und mittlerweile war ich ihm für sein Angebot überaus dankbar. Susanoo hatte mir ein weiteres Zuhause gegeben. Ich traf dort auf die unterschiedlichsten Menschen, die wie ich heftige Schicksalsschläge erlebt hatten. Für diese hofften mein ehemaliger Geschichtslehrer und ich, einen Ort zu erschaffen, an denen ihnen die Alltagslast von den Schultern fiel. Heute hatte die Bar Ruhetag. Statt etwas zu unternehmen, saß ich jedoch nachdenklich auf meinem weißen Metallbett. Eines der Nachteile am Erwachsensein. Plötzlich begann man über Gott und die Welt nachzudenken, wo man sich früher kopfüber ins Abenteuer gestürzt hätte. Ein Klopfen an der Tür ließ mich erschrocken zusammenzucken und ich schob die Gedanken zur Seite. »Yas ich finde meinen Wohnungsschlüssel nicht!« Gedämpft ertönte Ellis Stimme aus dem Hausflur. Nicht schon wieder.

Zweimal hatte Elli es fertig gebracht, ihren Schlüssel zu verlieren. Aus mysteriösen Gründen nie den für die untere Haustür. Trotzdem war es lästig einen neuen von unserem Vermieter zu organisieren. Bis wir den erhielten, mussten wir uns zwangsläufig meinen teilen und das war die Hölle! Da Elli eine Vampirin war, die nie schlief, dafür aber doppelt so viel ausging, war es die reinste Folter fast jede Nacht geweckt zu werden. Dann wenn ich endlich mal eine durchschlief und nicht in der Trinkbar arbeitete, könnte ich sie erwürgen. Unverständlich knurrend erhob ich mich von meinem Bett und schleppte mich zur Wohnungstür. Kaum aufgezogen stand mir Elli mit drei vollen braunen Papiereinkaufstüten gegenüber. »Du bist ein Schatz.« Meine beste Freundin, Schrägstrich Mitbewohnerin schob sich an mir vorbei, wobei sie die auf den Boden stehenden Tüten lieblos durch die Wohnung trat. Seufzend schloss ich die Tür hinter ihr und folgte Elli in die Küche. Dort angekommen stellte sie die Papiertüten auf den nussbraunen Küchentisch ab. Jemand hatte das nigelnagelneue Stück auf dem Sperrmüll geworfen und auch wenn das Ordnungsamt etwas anderes sagen würde: Wir hatten den armen Tisch vor einem grausamen Schicksal bewahrt.

»Was hältst du davon, dass der Bioladen um der Ecke unsere Lieblingsschokolade aus dem Sortiment genommen hat?«, plapperte Elli drauf los und stemmte entrüstet die Hände in die Hüfte. Meine Antwort war ein schlichtes Schulterzucken, bevor ich ihr dabei half den Einkauf zu verstauen. Elli hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen, obwohl sie genau wusste, dass mich das störte. Wahrscheinlich war sie mit ihren Gedanken woanders. »Hast du heute Abend wieder einen Videocall mit Bruce?«, schnitt ich ein Thema an, welches entschied, ob ich heute ausging, oder in Ellis und meiner Wohnung blieb. Bruce studierte Medizin an der Universität in Bonn. Damit niemand den anderen im Weg stand, jemanden kennenzulernen, hatten sich der Gott des Lichtes und die Vampirin dafür entschieden ihre Beziehung aufs Eis zu legen. Trotzdem erkundigten sich die beiden mindestens einmal in der Woche über das Leben des jeweils anderen. Elli und Bruce konnten nicht ohneeinander, nur traute sich keiner, diese Tatsache auszusprechen. Es tat schon etwas weh den ehemaligen Pärchen dabei zuzusehen wie sie sich wehmütig anschmachteten und sich so gaben, als wären sie glücklich mit der Situation. Darauf angesprochen, dass die Trennung eine dumme Idee war, hatte ich Elli schon, aber sie hatte nur gelacht und mit einer Handbewegung versucht das Thema aus der Welt zu wischen. Manchmal fühlte ich mich schlecht, denn ich hatte das Gefühl, Elli hätte sich meinetwegen von Bruce getrennt. Sie müsste wissen, dass mein eigener Verlust damit nicht gelindert wurde. »Heute Abend reden Bruce und ich nicht miteinander, dafür aber morgen«, beantwortete Elli meine Frage mit einem Glänzen in den Augen, dass so schnell verschwand, wie es gekommen war. Dann steckte ihre Stupsnase schon wieder in der braunen Papiertüte. »Ist gut dann arbeite ich ohnehin«, äußerte ich mich und wir packten jeder in seinen eigenen Gedankengängen verstrickt weiter aus.     

Hateful and Loveable Creatures 2- Die Zeitstadt (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt