Zwölf

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Noah saß gelangweilt auf seinem Bett, den Blick auf irgendeinem Video, das auf seinem Handy lief. Er hatte nichts besseres zu tun. In den Wald konnte er nicht, es regnete wie aus Eimern und seine Mitbewohner waren nicht im Zimmer. Colin machte mit Julia Hausaufgaben im Gemeinschaftsraum und Joel trieb sich mit Annika und Nesrin umher. Da fiel ihm ein, dass er Neele anrufen wollte. Also nahm Noah sein Handy und suchte den Kontakt des Internates. 

„Marie-Curie-Internat, Guten Tag", meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende, nachdem es ein mal tutete. Wie oft sie das wohl heute schon gesagt hatte? „Guten Tag, hier ist Noah Temel. Könnte ich bitte mit Neele Temel telefonieren. Ich bin auf der Anrufliste vermerkt", antwortete Noah. Dabei klang er ein wenig wie ein Roboter, vielleicht weil er diesen Satz immer genauso sagte, wenn er mit Neele reden wollte. 

„Natürlich, einen Moment bitte". Noah wartete eine halbe Minute, auf der anderen Leitung hörte er immermal jemanden atmen oder flüstern. „Noah", empfing ihn dann die Stimme seiner kleinen Schwester. Wie sehr er sie vermisst hatte. „Bambi. Wie gehts dir?" „Gut. Mir gefällts hier inzwischen schon richtig gut. Und ich habe Freundinnen gefunden, mit den ich jeden Tag spielen kann. Sie sind auch in meiner Klasse und sogar im gleichen Schlafsaal", erzählte Neele begeistert. Noah fiel ein Stein vom Herzen. Neele war nicht allein, sie hatte Freunde. Noah spürte Stolz in sich aufsteigen, seine Schwester war ihm einen Schritt voraus. Die Leute mit denen er sich hier rumtrieb konnte er nicht wirklich als Freunde bezeichnen. 

Julia und Ava sind Freundesfreunde und Joel ist definitiv mehr sein Mitbewohner als ein Kumpel. Und mit Colin war es eh irgendetwas, aber nichts freundschaftliches. Da war etwas, was Noah einfach nicht beschreiben konnte. „Das freut mich. Wie läufts in der Schule?", erkundigte sich Noah. Früher hatte er Neele oft bei Hausaufgaben geholfen, sie hatte immer schon eine paar kleine Probleme in Mathe. Dafür liebte sie Sport und Kunst. Genauso wie Noah. 

„Die Schule macht Spaß, es ist richtig bunt. Und ich bin eine der Klassenbesten". Noah lächelte. Klassenbeste, das war schon immer ein Ziel, dass Neele seit dem Schulbeginn. Noah freute sich für seine kleine Schwester. „Sehr gut, Neele. Ich bin stolz auf dich", sagte er durch den Hörer und grinste. „Meinst du Mama und Papa sind auch stolz auf mich?", fragte Neele. 

Das Grinsen fiel von Noahs Gesicht. Er wollte seiner Schwester nicht sagen müssen, dass ihren Eltern höchstwahrscheinlich egal war, ob sie Klassenbeste war. Das hatte sie bei ihm auch noch nie interessiert. „Bestimmt", sagte er dann schweren Herzens. Er brachte sich nicht dazu, sie zu enttäuschen. Neele freute sich auf der anderen Seite, was Noah wie durch eine Wand mitbekam. Neele wollte immernoch glauben, dass ihre Eltern sie liebten. Sie und Noah. Aber das taten sie nicht. Das wurde ihm die letzten Jahre bewusst, jeden Tag mehr. 

„Glaubst du Mama und Papa fliegen mit mir in den Urlaub im Herbst?", hörte Noah aufeinmal seine Schwester fragen. Ihm gefror das Blut in den Adern. Neele wusste nicht, dass sie in den Ferien nicht nach Hause fahren würde? Wie konnten seine Eltern ihren Plan mit allen absprechen, außer mit derjenigen, die es am meisten betrifft. Vielleicht sollte er ihr jetzt die Wahrheit sagen, damit sie sich darauf einstellen konnte. 

„Bambi, du fährst im Herbst nicht nach Hause. Du fährst zu mir nach Erfurt aufs Internat. Ich dachte, du wüsstest schon Bescheid". Auf der anderen Seite wurde es still. Neele brauchte wahrscheinlich ein paar Sekunden um zu verarbeiten, was Noah gesagt hatte. „Warum kann ich nicht nach Hause?", wollte Neele wissen. Noah wusste nicht genau wie er diese Frage beantworten sollte. Es gab keine Antwort, die Neele nicht zeigen würde, dass sie ihren Eltern egal war. Kurz schwieg Noah, weil er nicht wusste, was er genau sagen sollte. „Sie denken es ist besser, wenn du bei mir bleibst, damit du nicht die ganze Zeit ihre Streitereien mitbekommst. Zumindest meinte Dorothea das", versuchte Noah zu erklären, ohne es schmerzvoll zu machen. 

Neele schwieg. Ihre gute Laune war verpufft und ist Nachdenklichkeit gewichen. Noah wollte nicht wissen, was seiner kleinen Schwester gerade durch den Kopf ging. Er bekam seine Gedanken ja nichtmal selbst geordnet. „Bambi, wenn du herkommst machen wir uns die besten 2 Wochen der Welt. Versprochen. Du lernst sogar meine Freunde kennen", versuchte Noah Neele wieder aufzuheitern. „Wirklich?" Neele klang etwas verunsichert. Noah bejahte die Frage und setzte auf seine imaginäre To-Do-Liste den Punkt mit Colin über die Ferienplanung reden. 

Sie schwiegen noch 2 Sekunden ehe Noah wieder das Wort ergriff. „Bambi, ich glaube, ich muss auflegen. Ich hab dich lieb Neele. Wir sehen uns in ein paar Wochen". Neele verabschiedete sich ebenfalls von ihrem großen Bruder und dann legten die Geschwister auf. 

In Noah blieb eine Leere, als er sein Handy vom Ohr nahm und es auf seinen Bauch legte. Dann starrte er wieder die grau-weiße Decke an. Die Stille war schon wieder zu laut und seine Gedanken zertrümmerten seinen Kopf. Nach ein paar Minuten des Deckeanstarrens bekam Noah Kopfschmerzen. Also stand Noah auf, ging in die Küche und holte sich aus dem kleinen Apothekenschränken eine Kopfschmerztablette, in der Hoffnung, sie würde auch die Gedanken lahm legen. Der Blonde hörte hinter sich plötzlich Schritte. 

Es waren Colin und Julia, die gerade mit Schulsachen unter dem Arm aus dem Gemeinschaftsraum kamen. Julia bemerkte zuerst die Anwesenheit von Noah und stupste Colin leicht an. Sofort veränderte sich seine Miene, Noah konnte nicht ganz identifizieren, wie der Lockenkopf darüber dachte, dass Noah ebenfalls in der Küche war. Dann fiel ihm die Packung mit den Tabletten in Noahs Händen auf und sofort legte sich etwas sorgenvolles auf Colins Gesicht. 

„Ist alles gut bei dir?", wollte er wissen und trat einen Schritt auf Noah zu. Am liebsten hätte er den Kopf seines Mitbewohners sanft umgriffen um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war, allerdings konnte er sich zusammenreißen. „Ja, ist schon okay. Nur ein wenig Kopfschmerzen, geht schon wieder weg", versuchte Noah die Situation zu beschwichtigen. Es klappte, zumindest war Julia überzeugt. Das blonde Mädchen hatte schon ungeduldig nach Colins Handgelenk gegriffen, allerdings stand dieser immernoch Noah zugewandt. 

„Wenn ich was tun kann, sag mir Bescheid, okay?", bot der Lockenkopf an und bevor Noah die Chance hatte zu antworten, wurde er von Julia auf den Vorhof gezogen. „Danke", murmelte Noah. Es war ein ehrliches Danke, es kam aus seinem Herzen. Allerdings hörte es niemand. 

Noah warf die Tablette ein, spülte sie mit etwas Wasser runter und machte sich dann auf den Rückweg in sein Zimmer. Vielleicht sollte er ebenfalls versuchen, die Hausaufgaben zu erledigen. Er hatte keine Lust auf eine weitere Standpauke und ein Zusatzreferat. Also setzte Noah sich unmotiviert an den Schreibtisch und klappte die Hülle seines Tablets um. Die Hausaufgaben verstand er zwar nicht, aber da gab es eine größer Chance, als zu verstehen, was ihm seine Gefühle gerade sagen wollten. 

Die Gefühle gegenüber seiner Eltern, die gegenüber Neele, den anderen Mitschülern und der Schule. Und auch die gegenüber Colin. Das waren wahrscheinlich die verwirrendsten. 

You're not alone, even if we're not around | Nolin FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt