Zehn

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Die nächsten Wochen verliefen in tiefem Schweigen. Sobald Noah wach wurde, verließ er das Zimmer und kam erst 5 Minuten vor der Nachtruhe zurück. In der Zwischenzeit saß er im Unterricht, ganz hinten in der Ecke aus dem Fenster starrend, oder er irrte im Wald umher. Manchmal ging er auch durch den nahegelegenen Park, meistens regten ihn aber die fröhlichen Paare auf. Und auch die Kinder, die mit ihren Eltern auf Spielplätze gingen. Dann zog Noah doch den Wald vor, wo er seine Ruhe vor allem und jeden hatte. Wo er mit seinen Gedanken alleine war. 

Diese kreisten allerdings nur noch um Colin. Würde er jedes Mal, wenn er an Colin dachte, 1€ bekommen, hätte er nur einen. Einfach, weil er an nichts anderes mehr denken konnte. Oft musste er deswegen auch die Tränen unterdrücken. Noah wollte nicht wegen eines Typen heulen, das bedeutete für ihn zwangsweise, dass Colin ihm verdammt wichtig war und egal, was der Lockenkopf machte, Noah würde es interessieren. Und das wollte er sich nicht eingestehen. Er musste alleine durchs Leben. Alleine mit Neele. 

Er würde eh verletzt werden, wenn nicht er Colin vorher schon verletzte. Noah war einfach zu kompliziert. Und er wusste immernoch nicht, was Colin fühlte, er war bestimmt nichtmal in den Blonden verliebt und lacht sich jeden Tag tot, darüber, dass sein Mitbewohner eine feige Schwuchtel ist. 

Inzwischen hatte Noah seinen Stammplatz im Wald, ein umgekippter Baumstamm, auf den er sich setzte, wenn seine Füße ihn nicht mehr tragen konnten. Oder wenn er beim Gehen nicht mehr denken konnte.


Colin lief jeden Tag mehr und mehr wie ein Geist umher. Er ignorierte seine Mitmenschen, starrte stumm auf sein Essen oder in Bücher und redete mit niemanden. Er wusste nichtmal selbst, was gerade mit ihm los war, aber solange Noah nicht mit ihm redete, war er wie ein Schatten seiner selbst. Julia fand keinen Zugang mehr zu ihm und auch Joel hatte bereits aufgegeben, zu versuchen mit dem Lockenkopf zu interagieren. 

Stumm lag Colin auf seinem Bett durch seine Kopfhörer drang irgendeine Playlist. Er hatte nichts zu tun, also starrte er an die Decke. Seine Kopfhörer waren fast leer, wenn es soweit ist, wird Colin aber nichts ändern. Er würde sie nicht absetzten, würde weiter die grau-weiße Decke anschauen. 

Plötzlich öffnete sich die Tür und seine beste Freundin betrat das Zimmer. Julia zog die Tür hinter sich ins Schloss und setzte sich zu Colin auf sein Bett. Kurz hatte Colin geschaut, wer gerade reingekommen war, setzte aber weder die Kopfhörer ab, noch riss er den Blick von der Decke los. 

„Colin, das kann nicht mehr so weitergehen. Du versiffts hier komplett und redest mit niemanden mehr. Ich mach mir Sorgen um dich", sagte Julia fürsorglich, während sie kurzerhand selber die Kopfhörer von Colins Kopf nahm, sie ausstellte und auf den Nachttisch legte. Colin schluckte, aber hielt den Blick an der Decke. Er wusste selber, dass er mit niemanden redete und nur in Selbstmitleid versank. Das musste Julia ihm nicht noch unter die Nase reiben. 

„Du musst nicht mit mir reden, aber du weißt, dass ich hier bin", sagte sie zu ihm und legte, so gut es ging, ihre Hand auf Colins Schulter. Colin zuckte bei der Berührung leicht zusammen, ließ Julia aber machen. Er wusste, dass sie da war und auch, dass er mit ihr reden konnte. Aber er wusste nicht, ob er sich schon jemanden anvertrauen wollte, wenn er selbst nichtmal wusste, was in ihm vorgeht oder warum seine Gedanken verrückt spielten. 

„Naja, du weißt ja, wo mein Zimmer ist". Julia stand auf und war drauf und dran, dass Zimmer zu verlassen, als Colin sie aufhielt. „Julia, warte". 

Er hatte sich mit Mühe aufgesetzt und schaute Julia aus traurigen Augen an. „Ich bin einfach nur verwirrt", versuchte er zu erklären, aber jetzt war Julia ganz Ohr. Sie schnellte neben ihn und legte ihm fürsorglich den Arm um die Schulter. Sie ließ ihm Zeit, er sollte das Tempo angeben. 

„Vor 2 Wochen ist etwas passiert, worüber ich die ganze Zeit nachdenken muss". Colin atmete tief ein. Er hatte es bisher nicht ausgesprochen, was ihm so zu schaffen machte. Er hatte Angst, dass wenn er es wirklich aussprechen würde, alles noch realer wurde. „Noah und ich, wir haben uns geküsst". 

Da, er hatte es wirklich gesagt. Und es brachte ihn zum weinen. Heiße Tränen liefen über die Wangen und landeten auf dem Bett. Julia stockte kurz. Mit dieser Offenbarung hatte sie nicht gerechnet. Nichtsdestotrotz hielt sie Colin weiter an sich gedrückt, in der Hoffnung ihm irgendwie Trost spenden zu können. Der Lockenkopf rieb sich mit der Hand die Tränen weg und er atmete die Luft, die er angehalten hatte, in einem leisen Seufzer aus. Julia hatte so viele Fragen auf der Zunge, allerdings wusste das Mädchen nicht, mit welcher sie beginnen sollte. Sie öffnete mehrmals ihren Mund, schloss diesen allerdings wieder. 

Nach ein paar Minuten hat sie sich die passenden Fragen zurecht gelegt. „Wie war es?", fragte sie vorsichtig und Colin blickte auf den Boden. Bis gerade eben hatte er noch die Decke angestarrt und versucht die Stille auszublenden. 

„Der Kuss? Intensiv, würd ich sagen", antwortete Colin nach ein paar Sekunden. „Hast du ihn geküsst oder er dich?", war die nächste Frage von Julia. „Er. aber hätte er mich noch länger so angestarrt, wie er es getan hatte, hätte ich ihn wahrscheinlich geküsst", antwortete Colin ehrlich. 

Das stimmte, es war verdammt schwer gewesen, sich zu fokussieren und nicht einfach ihre Lippen miteinander zu verbinden. Julia nickte verstehend. „Dann stehst du auf Noah?". Das war die Frage. Stand Colin tatsächlich auf Noah? Oder war das nur so eine fixe Idee, wollte ihm sein Kopf oder Herz einfach nur einen Streich spielen? Schließlich hatte ihm sein Kopf ja auch gesagt, dass er in Julia verliebt war und siehe da, sie muss sich um ihn kümmern, weil er nicht weiß, ob er sich in seinen Mitbewohner verknallt hatte. 

„Ich hab keine Ahnung", musste Colin zugeben. Die Tränen liefen ohne Pause über seine Wangen, die knallrot waren, seine Atmung verschnellerte sich und er begann am ganzen Körper zu zittern. Julia drehte die beiden so, dass sie ihn endlich richtig in den Arm nehmen konnte und er sich an ihrer Schulter ausweinen konnte. Auch wenn er dabei ihr Lieblingskleid nass machte und sich daran festkrallte. Sie störte es nicht, Colins Wohlbefinden war jetzt wichtiger als alles andere. 

„Shh, ich bin da", flüsterte sie und streichelte beruhigend über Colins Rücken und Arme. „Vielleicht solltest du das ganze vergessen, es tut dir gar nicht gut". 

Etwa eine halbe Stunde später war Colin vom weinen so fertig, dass er auf Julias Schulter eingeschlafen war. Da es bereits kurz vor der Nachtruhe war, schob Julia ihren besten Freund sachte von ihrer Schulter und stellte sicher, dass er auf dem Kissen landete, ohne wach zu werden. Sie deckte Colin schließlich zu und verließ dann flink, aber leise, das Zimmer. In der Tür schaute sie nochmal über den Rücken und sah ihren besten Freund beim schlafen an. 

So zerbrechlich wie heute, hatte sie ihn erst einmal erlebt. Vor 10 Jahren, als ihm die zwei wichtigsten Menschen genommen wurden. Dann verließ Julia das Zimmer und ließ Colin schlafen. Das hatte er bitter nötig.

You're not alone, even if we're not around | Nolin FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt