[024] Carl

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Carl war am Leben, genau hier vor meinen Augen, und dennoch fühlte es sich so an, als hätte ich unseren letzten Moment miteinander verpasst

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Carl war am Leben, genau hier vor meinen Augen, und dennoch fühlte es sich so an, als hätte ich unseren letzten Moment miteinander verpasst. Vorsichtig fasste ich nach dem weißen Handtuch, das eine Hausdame - Patricia - fein säuberlich auf dem Nachtisch zusammengefaltet hatte, und trocknete das Gesicht des kleinen Jungen. Alle Farbe war ihm entwichen und die dünne Haut auf seinen üblichen rosa Lippen spaltete sich bereits, wurde faltig und würde - ich war ganz sicher - sofort aufreißen, sobald er sie bewegte.

Wenn er sie bewegt, wimmerten die verängstigten Stimmen in meinem Kopf.

Eine Träne rann flüchtig über meine Wange und tropfte an meinem Kinn hinab auf die Brust des Jungens. Er sah so schwach aus, so unglaublich zerbrechlich. Ich fürchtete, ich könnte seine Hände brechen, wenn ich sie nur zu lange hielte, oder seine bleiche Haut zum Bluten bringen, wenn ich nicht genug aufpasste und ihn kratzte. Er war hier, Carl war hier, und dennoch begann mein Herz sich zu verabschieden, sich auf den Schmerz vorzubereiten, der mit einem bösen Grinsen in der Dunkelheit wartete. Ein Schmerz, der so unglaublich war, dass er mich zerreißen würde. Ich würde es nicht überleben, nicht diesmal, nicht ohne Carl. Ich wollte es nicht überleben.

Meine Gedanken begannen sich allmählich in wilden Träumereien zu verlieren, während ein scheinbar endloses Meer aus Erinnerungen mein Gedächtnis überflutete: Ich erinnerte mich an die Nacht, als Carl im Krankenhaus geboren wurde und an diesen eigenartig beruhigende Babygeruch, als ich ihn das erste Mal in meinen Armen hielt.
„Jetzt bist du endlich Tante", hatte Lori jubelnd ausgestoßen. Aber was war ich jetzt? Was wäre ich ohne Carl?

„Hey." Überrascht richtete ich meine Augen auf Shane, der entspannt gegen den Türrahmen gelehnt stand und zwischen Carl und mir hin und her sah.
„Hey", erwiderte ich heiser. Hey waren die ersten Worte, die wir seit drei Tagen miteinander ausgetauscht hatten. Vielmehr versuchte ich jedoch das Gefühl hinunterzuschlucken, dass ich ihn erst jetzt, hier, in diesem fremden Schlafzimmer, wahrnahm: Shane hatte sein lockiges, schwarzes Haar abgeschoren. Er trug eine zu große, dunkelblaue Latzhose, womit er das graue T-Shirt zu verstecken versuchte, das eigenartig auf seinen ohnehin breiten Schultern lag und verriet, dass diese nicht ansatzweise seine Kleidungsstücke waren. Vielmehr war es jedoch der kalte Ausdruck in seinen brauen Augen, der Sorge in mir erweckte.

Irgendetwas beschäftigte ihn, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. Irgendetwas ist passiert.

„Ist alles in Ordnung, Shane?", fragte ich so leise, dass er mich beinahe nicht verstanden hätte.
„J-Ja, ja...Es ist nur", verlegen massierte Shane sich den Nacken. „Gerade war Otis Beerdigung."
„Der Mann, der Carl angeschossen hat?"
„Ja."

Stille kehrte zwischen uns ein und ich wusste nicht, ob einer von uns sie wirklich wollte - die unbändige, laute Stille -, doch würde keiner von uns sie unterbrechen. Stattdessen verharrte Shane einen Moment mehr in seiner lässigen Position an dem Türrahmen gelehnt, ehe er einen, zwei, drei Schritte vortrat, sich zu mir hinunter streckte und einen Kuss auf meine Stirn hauchte.

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?", fragte ich, doch diesmal sanfter, besorgter.
„Mir geht es gut", versicherte Shane, ohne seine Hand von meiner Wange zu nehmen oder seine Lippen von meiner kalten Stirn zu lösen. Er brauchte das - mich -, also bewegte ich mich nicht. Ich wartete und schwieg, solange, bis er bereit war, einen Schritt zurückzutreten und seine Aufmerksamkeit zurück auf den Jungen zu lenken, der seine kobaltblauen Augen fest verschlossen hielt.

„Er wird aufwachen", flüsterte Shane, doch galten seine Worte nicht mir. Sie waren für ihn selbst, eine leise Versicherung, die er hören musste.
„Er wird aufwachen", antwortete ich. „Er braucht nur etwas Zeit."
„Wie viel?"
„Ich weiß es nicht, Shane. Wir müssen einfach nur abwarten und hier sein, wenn es endlich soweit ist." Ich lauschte den ehemaligen Polizisten seufzen, ehe der letzte Rest seiner Mauer endlich zerfiel und ein Meer aus Trauer über seine Züge glitt. Zischend senkte er seinen Anblick und kniff sich in seinen Nasenrücken.

„Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich-"
„Shane, du wusstest nicht, was passieren würde. Es ist nicht deine Schuld, hörst du? Du bist nicht schuldig, Shane." Flüchtig stemmte ich mich vom Bett ab und zog ihn in eine enge, vertraute Umarmung. Shane stieß einen langen Atemzug aus, ehe er seine Lippen öffnete. Jedoch sagte er nichts. Schon fast, als bliebe jeder seiner vielen Töne verschluckt. Also schlang er seine Arme still um meine Hüften und vergrub sein Gesicht tiefer in meiner Halsgrube, während meine Augen zu dem Mann mit der Armbrust wanderten, der mitten in der Haustür stehengeblieben war.

Ich versuchte, Daryls Gesichtsausdruck zu lesen, während seine wasserblauen Augen Shanes Gestalt einstudierten und die Art, wie wir uns hielten - wie seine Arme um meine Hüften lagen und wie meine seine Schultern umarmten. Es schien, als würde er alles in nur wenigen Sekunden einstudieren und sich jedes Detail ganz genau einprägen, als würde er gleich hinausgehen und es an eine Leinwand werfen.

Er prägte sich alles ein, doch nicht mich. Mein Gesicht mieden seine Augen so lange, bis etwas in ihm - und ich wusste nicht, was - einknickte. Als er mich endlich ansah, wurde alles plötzlich still: Das Ticken der vergoldeten Uhr auf dem Nachtschrank und Shanes unruhigen, zittrigen Atemzüge, das Gekreische von Sophia, welche draußen mit Carol fangen spielte und das leise Gespräch in der Küche, begleitet von weißen Porzellantellern, die auf einer glatten Holzebene aufgedeckt wurden und das spritzen von heißem Öl, als die Hausdame - Patricia - etwas in der Pfanne zu braten begann. Alles verstummte und alles verschwand. Nur Daryl blieb.

Und ich wartete, wartete, dass er endlich seinen Blick von mir abwandte und aus der Haustür verschwand, denn das, was auch immer wir taten, fühlte sich nicht richtig an. Daryl Dixon starrte jedoch weiter. Er sah mich an, als wäre ich es wert, angesehen zu werden. Und als er dann beschloss, dass es Zeit war zu gehen, starrte ich ihm nach - Shane noch immer in meinen Armen. Die Stimmen in meinem Kopf fanden Einklang, als sie den Biker böse beschimpften, ihn verfluchten und das Herz in meiner Brust übertönten, das den Worten nachtrauerte, die er in der vergangenen Nacht an mich verloren hatte: „Eine Last", hatte er gesagt. „Nichts mehr als eine verdammte Last."

Vielleicht hatte er recht. Es war nichts, worüber ich nicht längst nachgedacht hatte. Natürlich war ich eine Last: Ich war nicht so stark wie Shane oder so schlau wie Rick und längst nicht so mutig wie Lori. Ich kannte die Wahrheit noch ehe sie über Daryls Lippen geschlüpft war, doch hatte es sich anders angefühlt, als er es gesagt hatte. Irgendwie eigenartig, nicht wahr?

Devil In Your Eyes {THE WALKING DEAD FF.}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt