Wattwanderung

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Lena

Die Jungs haben jeweils einen Rucksack auf dem Rücken, in denen Wasser und ein paar Sandwiches, sowie Verbandszeugs für alle Fälle und etwas Süßes, zu finden sind.

Merlin hat Finn frische Klamotten, sowie eine dickere Jacke und die Sportschuhe, die er gerade anhat, ausgeliehen. Mein Freund wollte unter keinen Umständen zurück nach Hause. Ich war nicht gerade begeistert davon, dass er seiner Familie so lange aus dem Weg geht, aber Finn ist ziemlich stur und in manchen Fällen, kann nicht einmal ich ihn umstimmen.

Jetzt stiefeln wir durch das Watt. Klar, haben wir solche Wanderungen schon öfters zusammen unternommen, aber seither waren es nur relativ kurze, gewesen. Jetzt zieht sich das ganze schon ziemlich in die Länge und ich habe etwas Schiss, dass die Flut uns einfach überrascht. Wo wir natürlich extra in den Gezeitenkalender geschaut haben und circa sechs Stunden Zeit haben. Das Meer ist in dieser Sache immer relativ zuverlässig und trotzdem kann ich das schlechte Gefühl, das ich in mir trage, einfach nicht abschütteln. Die Ponte Reeves liegt schon ziemlich tief im Wattenmeer. Zwei Stunden brauchen wir auf jeden Fall und das für einen Weg. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass wir vielleicht gerade einmal eine halbe Stunde unterwegs sind, was sich mir bestätigt, als ich auf meine Armbanduhr, schiele.

Ich versuche die Panik in mir, etwas nach hinten zu schieben. Finn weiß schon, was er tut. Merlin und er haben schon längere Wattwanderungen unternommen und sind immer wieder heil nach Hause gekommen. Außerdem ist da trotz allem dieses Gefühl in mir, diese Abenteuerlust und ich freue mich schon sehr darauf, endlich das Wrack vor meinen eigenen Augen sehen zu können.

„Puh ist das anstrengend...", keucht Amelie, bleibt kurz stehen und stemmt sich die Hände an die Seiten. Sie pustet sich eine verirrte Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht.

Merlin ist sofort bei ihr und überreicht ihr lächelnd eine Flasche Wasser, das in der Seitentasche seines Rucksacks, gestanden hat. Meine Cousine wird augenblicklich wieder rot und sie dreht sich etwas beschämt von uns weg, als sie mit dem trinken beginnt. Schüchtern gibt sie die Flasche anschließend wieder an Merlin zurück, der sie noch immer mit einem seligen Grinsen, betrachtet.

„Dann kann es ja weiter gehen", befiehlt Finn gleich darauf und zerstört so den kurzen, aber es scheint mir sehr innigen Moment zwischen Merlin und Amelie. Ich fühle mich auch wohler dabei, so wenig Zeit wie möglich zu verschwenden und hoffe, dass meine Freunde vielleicht auch später noch erkennen, wie nahe sie sich eigentlich längst sind.

Eine Weile wandern wir nur still nebeneinander her, waten durch einige tiefe Pfützen aus Sand und Wasser, ehe wir in der Ferne endlich das Wrack vor uns sehen. Es türmt sich stolz auf, dort zwischen den Sandbanken, die teils von ziemlich wild wuchernden Gräsern, besiedelt sind.

Als wir näher an das Wrack herantreten, verfängt sich mein Sportschuh, hartnäckig in einem feuchten Sandhaufen. Ich fühle mich wie gelähmt, weil ich meinen Fuß nicht mehr bewegen kann. Kurz schreie ich verzweifelt, ehe Merlin und Finn mich mit einer Leichtigkeit befreien. Jetzt ist es nur noch mein klopfendes Herz, das ich irgendwie beruhigen muss.

Die Ponte Reeves liegt schräg im Wattenmeer. Die Steuerbord vergräbt sich schon ziemlich tief in die Sandbank, in die das Boot wohl gefahren und anschließend dort gekentert ist. Algen haben sich an der Seite verfangen und wuchern dort stetig vor sich hin. Das Holz ist von den ständigen Wassermassen, die das Wrack immer wieder überschwemmt, ziemlich gut erhalten. Zwar splittert es schon ziemlich stark ab und ist von Algen und Rost überzogen, aber die Flut nässt es immer wieder und sorgt dafür, dass es nicht schon längst zerfallen ist. Das Häuschen rund um die Fahrerkabine ist in einem weißen Holz gestrichen, das schon deutliche Zerfallsspuren, aufweist. Die Fensterscheiben sind ohne Glas, welche wohl durch die starken Wassermassen, längst zerborsten sind.

Ich blicke kurz in den Himmel. Es ist zwar kein Regen vorausgesagt, trotzdem ist eine ziemlich dicke, glücklicherweise von hellgrauen Wolken bestückte, Decke am Himmel zu sehen. Ich hoffe, der Wettergott hat noch ein Weilchen, Gnade mit uns.

Dieses Bild, das wir gerade vor uns haben, ist einfach einmalig. Neben mir spüre ich Finn, der aufgeregt sein Handy aus der Jackentasche zieht und einen Schnappschuss nach dem anderen von dem Wrack und der spektakulären Aussicht, um uns herum, macht. Er macht schließlich den ersten Schritt, tapst durch die kleine Lache an Meereswasser, die sich vor dem Wrack gesammelt hat, geht auf der Sandbank um dieses herum und betrachtet es auch von Backbord.

Ich dagegen bestaune noch eine Weile lang den Bug, der sich noch majestätisch in die Höhe reckt, so als wolle das Boot bei der nächsten Gelegenheit einfach wieder an Fahrt aufnehmen.

Merlin und Amelie haben sich Finn angeschlossen und laufen jetzt zielsicher um das Boot herum. Schließlich geselle ich mich zu den dreien.

„Ein wenig Zeit haben wir noch", murmelt Finn und klettert vorsichtig von Steuerbord auf das Wrack hinauf. Ich folge ihm gleich und kurz darauf ist es Merlin, der neben mir steht. Er schaut noch fürsorglich, ob Amelie seine Hilfe braucht, aber meine Cousine klettert geschickt zu uns hinauf. Schließlich folgen wir drei, meinem Freund in das Innere des Schiffes, dort hinein, wo die kleine Treppe nach unten in die Kajüte führt. Alles hier riecht ziemlich modrig und die Feuchte des Meeres, frisst sich deutlich sichtbar durch das ganze Wrack.

„Ich würde erst mal in der Steuerkabine nachsehen", meint Merlin, aber Finn überhört seinen besten Freund total und ist schon die Treppe zu der Kajüte hinuntergegangen.

„Wir sollten zusammenbleiben", meine ich zu Merlin und Amelie, die sofort zustimmend mit dem Kopf nicken.

„Die Treppe sieht ziemlich instabil aus", wispert Amelie ängstlich.

„In der Tat ist das hier ein Wrack und ja, es ist einfach nur gefährlich, aber wir können Finn doch nicht alleine lassen"

Vorsichtig steigen erst Amelie und ich nach unten, ehe Merlin uns folgt.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Ein Strudel aus den verschiedensten Farben zeigt sich vor meinen Augen. Er dreht sich rasant schnell und zieht alles in seinen geöffneten Schlund. Ich will mich noch wehren, klammere mich an Amelies Hand, deren Gesicht dicht neben mir ist und die mich jetzt mit weit geöffneten, ängstlich starrenden Augen anblickt.

Und dann zieht der Strudel uns ein und wir fallen in ein tiefes, endloses Nichts.

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt