Alles nur Lügen?

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Finn

Henry ist mein Vater?!

Mein V-a-t-e-r!

Im Moment spüre ich nur noch Wut. Bis eben war es eine tiefe Verzweiflung, ehe dann dieses lodernde Feuer in meiner Brust ausgebrochen ist. Es scheint dass es mein ganzes Herz verbrennt. Langsam und qualvoll. Und ich bin nicht einmal in der Lage es zu löschen.

Obwohl, wer gibt mir die Garantie, dass Black J hier die Wahrheit erzählt?

Henry kann nicht mein Vater sein!

Unmöglich?!

Papa ist es!

Black J lügt.

Nein, er macht sich einen Spaß mit mir. Führt mich an der Nase herum. Quält mich.

Eben doch ein typischer Pirat!

Ich hätte es besser wissen müssen.

Merlin scheint es auch nicht besser zu gehen. Er öffnet den Mund, nur um ihn im nächsten Moment wieder zu schließen. Vielleicht bleiben ihm die Worte im Hals stecken oder er ist zu aufgewühlt, um einen ganzen Satz zu sagen, ohne dabei ins Stottern zu geraten. Zumindest mir geht es im Moment so. Immer wieder starren Merlins Pupillen mich an, dann wandern sie zu Black J. Seine geöffneten rotbraunen Haare, wippen im Takt seiner Bewegungen mit. Die trockenen Lippen versucht er mit der Zunge zu befeuchten. Es ist einfach nur ein komisches Bild.

Die Mädchen dagegen schauen nur stumm zu. Immer wieder meine ich zarte Hände zu fühlen, die mich streicheln, aber alles ist so...unwirklich. Fast wie in Zeitlupe. Es ist nur mein Herz, das wild gegen meinen Brustkorb schlägt. Es betäubt mich auf eine unangenehme Weise. Wie gerne würde ich es mir aus der Brust reißen, nur um diese Gefühle in mir nicht mehr fühlen zu müssen. Einfach mal abschalten von dem ganzen Chaos.

Wieso nimmt Black J mich so hoch?

Und auch Merlin gegenüber ist es einfach nicht fair.

„Onkel Henry ist zu unserer Zeit, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren verschollen", höre ich Merlin irgendwann rufen. „Finn ist doch erst sechszehn. Das kann doch gar nicht wahr sein."

„Ich glaube das nicht", murmele ich vor mich hin.

„Außerdem hatte Henry seine kleine Tochter bei sich. Sie wäre in die Schule gekommen in dem Jahr, als sie verschwand. Es ergibt doch keinerlei Sinn..."

Black J ignoriert Merlins Kommentare und übergeht ihn total. Wie Luft behandelt er meine Freunde.

„Ich habe Henry einen Brief geschrieben, nachdem ich herausgefunden habe, dass er nicht der richtige ist. Auf keinen Fall wollte ich, dass er sich unnötigerweise in Gefahr bringt. Noch weniger seine kleine Tochter. Zwei Tage später erfuhr ich dann von Blackbeard, dass Henry ertrunken ist. Es war grausig. Ich fühlte mich ziemlich schuldig, wo ich doch alles versucht hatte, ihn zu überzeugen, dass er nicht der Auserwählte ist. Es scheint, dass Henry nicht wollte, dass du eines Tages in große Gefahr gerät. Außerdem wusste ich, dass es der Fluch ist, der deinen Vater im Meer umgebracht hat. Du warst zarte drei Jahre alt, als das Unglück passierte. So alt wie jeder unserer männlichen Vorfahren, als sie ihren Vater verloren. Naiverweise dachte ich, dass ich Henry warnen könnte. Ich hatte erhofft, dass es ihn verschont."

Das ist es, was der Captain erzählt. So ganz nebenbei, als hätte er soeben nicht mein ganzes Leben durcheinander gebracht. Warum nimmt er sich das Recht, mir so weh zu tun? Wie kommt er auf die Idee, dass er mich im Moment mit noch mehr Details erschlagen muss?

Ich kann momentan nichts damit anfangen. Eigentlich interessiert es mich auch überhaupt gar nicht. Was habe ich von diesen Neuigkeiten? Ein gebrochenes Herz?! Darauf hätte ich liebend gerne verzichten können.

Was für ein Spiel ist das hier?

„Aber woher wussten Sie überhaupt von all dem? Von Henry und Finn?" Es ist eines der Mädchen, das jetzt spricht. Klingt nach Amelie.

„Wieso hatte Onkel Henry meine Cousine bei sich?"

So viel Chaos. Perfekt zu den Gedanken, die in mir lauern. Ich bin wie ein Vulkan, der sehr bald ausbrechen wird-

„Aber Papa..." Meine Stimme bricht. Der Mann, der all die Jahre an meiner Seite war... Und den ich von Herzen liebe. Es kann nicht sein. Er ist mein Anker. Mir so ähnlich, wie Mama es früher immer liebevoll ausdrückte.

Alles nur Lügen? 

Vielleicht bilde ich mir ja auch alles nur ein. Fantasiere. Möglicherweise habe ich Fieber.

„Henry war ein Zwilling", platzt Black J mit der nächsten Neuigkeit raus.

Oh ja. Was kommt eigentlich noch?

Ich ahne, wer genau der Mann ist, den ich all die Jahre für meinen Vater gehalten habe.

Bis eben dachte ich noch, schlimmer kann es nicht mehr kommen.

Das heißt, dass Mum zuerst den einen und dann den... Stopp! So genau mag ich mir das gar nicht vorstellen. Sonst wird mir noch schlecht. Und Magda? Um Himmels Willen was für ein heilloses Durcheinander!

Muss ich jetzt an Pocken sterben?

„Heißt das Finn und ich sind jetzt Cousins?"

„Halte dich endlich raus, Merlin", brüllt Black J.

„Schreien Sie mich nicht an, Captain", kontert Merlin sofort. „Sie können mich nicht mehr einschüchtern. Prügeln Sie mich windelweich, wenn es Ihnen dann besser geht. Es ist Finn, den sie für Ihre Zwecke brauchen, aber ich bin sein bester Freund und ich halte zu ihm, vor allem wenn es ihm schlecht geht."

„Ich möchte alleine sein". Ich halte es einfach nicht mehr länger unter den Blicken aus, die mir alle zuwerfen. Ich spüre die Besorgnis meiner Freundin und auch Amelie will mich berühren und mir damit zeigen, dass ich nicht alleine bin. Aber genau das ist es, was ich jetzt für den Moment nicht brauche. Die Informationen von eben, die sind einfach zu... krass. Ein anderes Wort finde ich gerade nicht.

Reicht es nicht, dass meine Familie sowieso schon kaputt ist? Die Tatsache, dass Papa mit einer anderen schläft und somit meine heile Welt in sich zusammengestürzt ist, wie ein Kartenhaus im Wind. Nein! Fortuna wollte unbedingt noch eine Schippe drauflegen, um es mir ja so schwer wie möglich zu machen. Dabei bin ich erst sechszehn. Werde in wenigen Wochen siebzehn. Aber wen juckt das schon? Im Moment fühlt es sich an, als könne ich den ganzen Schmerz nicht tragen.

Es ist einfach zu viel!

Und definitiv kein Fiebertraum.

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt