Ungewöhnliche Farbe

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Finn

Das Geschehen um uns herum ist Wahnsinn, ja grandios! Mir fällt einfach nicht das richtige Wort ein, um es genau zu beschreiben. So viele Männer wuseln geschäftstüchtig um uns herum. Keiner achtet auf uns. Ich hatte es mir anders ausgemalt. War fest davon überzeugt, dass wir gleich angegriffen werden, nachdem wir über das Holzteil an Land balanciert sind. Aber keinen scheint es zu stören, dass Joseph, eine Handvoll seiner Männer und wir vier Freunde jetzt hier sind.

Elegant sucht sich der Captain einen Weg durch die Arbeiter und wir folgen ihm, als wäre er eine Entenmama und wir seine Kinder. Es ist bestimmt ein lustiges Bild. Die Hafenarbeiter haben alle so ungefähr dasselbe an. Ein schlichtes weißes Hemd, das vom vielen schwitzen und dem Dreck in der Luft schon leicht gräulich schimmert, dazu kurze blaue Jeanshosen, die bei vielen durch Hosenträger gehalten werden. Ziemlich einfache Bandteile, die nur zum Zweck dienen, aber keinerlei modischer Dekoration. Besonders auffallend empfinde ich die weißen Strümpfe, die dort aufhören, wo die Jeanshosen anfangen. Alle tragen sie eine flache, schwarze Kappe auf den Haaren. Auf den Gesichtern zeichnet sich deutlich der Schweiß und Schmutz von der sehr harten Arbeit.

„Frische Ware. Erst heute Morgen gefangen. Scholle, Barsch, Hering...", schreit ein Fischverkäufer in das wuselnde Durcheinander. Es sind so viele verschiedene Gerüche in der Luft. Der Fisch hat seinen ganz eigenen. Im allgemeinen stinkt es hier fürchterlich. Der Mangel an Hygiene und Sauberkeit hängt deutlich in der flirrenden Nachmittagshitze.

Joseph steuert direkt auf einen kleinen Pub zu. Das Messingschild, das über dem Eingang hängt, weht leicht im Wind und gibt dabei ein ekliges Knarzen von sich. Es ist beinahe, wie wenn jemand mit dem Fingernagel über eine Tafel fährt. Mich schaudert es  kurz, dann studiere ich den Namen der englischen Bar.

„The OX", steht da in großen Lettern. Darunter ist der Kopf eines Ochsen gezeichnet. Für einen Moment betrachte ich die beiden Hörner und die Augen, ehe ich meinen Blick schnell wieder abwende. Irgendwie gruselig. Für einen Moment dachte ich, dass die Pupillen sich bewegt hätten. Bestimmt nur ein Effekt. Und dementsprechend gemalt.

„Wir werden doch jetzt nicht in einen Pub gehen?", fragt Lena entsetzt. „ Wir sind doch erst sechszehn und dürfen da doch noch gar nicht rein."

„Wir stecken in der Vergangenheit fest", erinnere ich meine Freundin. „Ich glaube damals gab es noch keine direkte Altersbeschränkung."

„Ich möchte da nicht rein", wimmert Amelie. „ Da sind bestimmt voll die gruseligen Typen. Da habe ich echt kein Bock drauf."

„Kommt ihr?", grunzt Joseph und dreht sich ungeduldig zu uns um, als er bemerkt, dass wir ihm nicht mehr folgen. Seine Männer sind längst verschwunden. Wahrscheinlich hatten sie ein ganz anderes Ziel.

Eine kleine und sehr zierliche Frau drängt sich an uns vorbei. Sie hat einen Esel bei sich, der nur sehr widerwillig das tut, was von ihm verlangt wird. Verzweifelt versucht die Dame das Tier anzutreiben, aber er bleibt immer wieder stur stehen.

Auf der gegenüber liegenden Seite des Pubs hat eine Familie einen Stand mit Gemüse aufgebaut. Die kleine Tochter sieht kurz zu mir herüber. Ihr Gesicht wirkt eingefallen und ihr Blick unendlich traurig. Am Körper trägt sie ein schlichtes Kleid, das an vielen Stellen schon zerrissen ist. Ein paar ziemlich schick angezogene Männer und Frauen passieren den kleinen Stand der Familie und schenken ihnen keinerlei Beachtung. Das Betteln der Mutter weht leise zu mir hinüber.

Geknickt wende ich meinen Blick wieder zu Joseph. Lena ergreift sofort meine Hand.

„Es ist grausig", wispert sie. „Ich wette es gibt so viele Menschen hier, die sich nicht einmal richtiges Essen, geschweige den Klamotten oder ein Dach über dem Kopf leisten können. Ich wünschte ich könnte irgendwie helfen."

Mit einem Händedruck zeige ich ihr, dass ich ihrer Meinung bin.

Armut betrifft so viele. Das ist auch in der Gegenwart akut. Aber hier in der Vergangenheit ist es furchtbar anzusehen. Erscheint mir viel grausiger.

Wir treten in den Pub. Sofort ändert sich der Lärm um uns herum. Jetzt sind es lallende Männer, die die Bedienungen anmachen. Frauen, die mit ihrem Charme spielen und sämtliche Köpfe verdrehen. Das Anstoßen mit den Krügen, aus denen braune Flüssigkeit schwappt. Das Verrücken von Holzstühlen. Und im freien Gang zwischen den schweren Holztischen,  steht eine rothaarige Frau, die zu Joseph sieht. Stumm tut sie das, ehe sie ihren Kopf in meine Richtung dreht und mir schließlich ein Lächeln schenkt. Ich betrachte die Frau etwas genauer. Die auffällig roten Haare schimmern im sanften Licht der Petroleumlampen, die überall im Pub aufgehängt worden sind, um ein warmes Licht zu zaubern. Sie trägt ein grünes Kleid, darunter ist deutlich der schwarze Unterrock zu sehen. Das Kleid hat halblange Puffärmel, der Rest der Arme ist mit schwarzen Stulpen überdeckt. Das aufwendigste sind wohl die Knöpfe, die auf Brusthöhe verarbeitet worden sind. Wie bei meiner Uniform sind sie wohl das wertvollste, abgesehen von den Blumenmuster, das sich schlicht über das gesamte Kleid webt. Ihr Erscheinungsbild wird durch eine weiße Bluse, die sie unter dem Miederteil trägt, vervollständigt.

„Ist das die Hexe", murmelt Merlin leise. So, dass kein anderer es mitbekommt. Jemanden der lauscht können wir jetzt sicher nicht gebrauchen.

„Ich denke schon", wispere ich ihm zu.

Seine Augen werden riesengroß und sein Mund klappt etwas auf.

Und ich kann ihn verstehen. Diese Frau, die hier vor uns steht, ist wunderschön. Und blutjung. Vielleicht höchstens zwanzig Jahre alt. Ich hatte eher mit einer alten Frau gerechnet, die ein faltiges Gesicht hat, eine krumme Nase und dicke Warzen im Gesicht. Eben das typische Bild einer Hexe. Wobei ich ja immer daran gezweifelt habe, dass es diese wirklich gibt.

„Im 18.ten Jahrhundert glaubte man, dass jede Frau mit dem Teufel im Bunde ist", flüstert Amelie uns jetzt zu. „Vor allem die Frauen mit roten Haaren. Es war zu dieser Zeit eine ungewöhnliche Farbe, die sofort mit etwas schlechtem, abartigem verbunden wurde. Ich denke ganz sicher, dass sie die Frau ist, von der Black J erzählt hat."

„Aber sie müsste doch steinalt sein. Es war schließlich Josephs Opa, der von ihr verflucht wurde. Laut seinen Erzählungen ist das ungefähr achtzig Jahre her. Das ist praktisch gesehen unmöglich."

„Das wird ihre Kunst sein. Sich immer selbst zu verhexen, damit sie niemals altert", schlussfolgert Merlin.

Ich glaube all das noch immer nicht. Es muss eine andere Erklärung geben.

„Es ist schön dich kennenzulernen, Finn", höre ich plötzlich eine seidig zarte Stimme direkt an meinem Ohr. Erschrocken drehe ich mich um und stelle fest, dass die Frau jetzt direkt neben mir steht. 

„Mein Name ist Susanna und ich denke es gibt vieles, was wir zu besprechen haben."

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt