Geheimnis

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Finn

„Aufstehen!...Na los, macht schon", dringt eine ziemlich laute Stimme in mein Ohr. Ich kann sie nicht zuordnen. Ich bin noch im Garten unseres Hotels und starre auf das Gebäude. Alles sieht so aus wie immer. Aber trotzdem hat sich etwas verändert. Ich kann nicht genau sagen was es ist... Bis eben war Naomi bei mir. Meine große Schwester hat mich in den Arm genommen und mich zu dem Strandkorb geführt. Wir haben viel geredet... Nur leider kann ich mich an nichts davon erinnern! Dabei erschien es mir so wichtig.

Wieso ist alles wieder weg?

Blöderweise verblasst auch nach und nach das Bild des „Bernsteinwind", vor meinen Augen. Verzweifelt versuche ich es wieder herzuholen. Aber es mag mir einfach nicht mehr gelingen. Der Anblick löst sich einfach ins Nichts auf. Ergeben öffne ich die Augen.

Alles nur ein Traum. Ein guter allerdings. Die Sehnsucht nagt trotzdem schnell wieder an meinem Herzen. All die Erinnerungen von gestern schießen in meine Gedanken. So viel Wirrwarr. Und trotzdem etwas, das ich nicht leugnen kann. Henry ist mein leiblicher Vater. Das zumindest würde erklären, warum Mama und Papas Liebe nicht mehr da ist. Was ist, wenn sie es nie war? Und ihre Ehe immer nur ein Notfallplan. Ein Versprechen, das ein Zwilling seinem Gegenstück nicht ausschlagen konnte.


„Der Captain möchte euch sprechen. Und es ist dringend", schnauzt uns der Matrose an. Zeit, dass wir uns wieder der Gegenwart stellen.


Oder wohl eher der Vergangenheit...


„Ich habe einen Weg gefunden", gibt Black J aufgeregt preis, als wir es endlich aus den Betten geschafft haben. Irgendwie war es eine Qual. Vielleicht auch, weil die Nacht noch nicht einmal vorüber ist. Es ist noch stockfinster und sicher dauert es noch ewig bis zur Dämmerung. „Es war alles eine Lüge. Die Menschen in New Bedford haben sich gegen die Piraten zusammengetan. Deshalb kuriert das Gerücht, dass dort die Pocken ausgebrochen sind. Viele der Menschen dort leben sowieso schon in Armut. Es gab dort wohl in den letzten Monaten zu viele Überfälle und Diebstähle, ausgelöst von tückischen Piraten..."

Mein Hirn ist noch benebelt. Ich checke gar nichts. Müde reibe ich mir durch die Augen. Wie schaffen die Matrosen es nur, immer fit zu sein und ihren Aufgaben nachzukommen? Ich beneide sie fast schon. Stattdessen wünsche ich mir im Moment nur mein Bett. Ausschlafen bis mindestens zehn und zum Frühstück ein leckeres Rührei mit Toastbrot. Alleine beim Gedanken an das Essen sammelt sich der Speichel in meinem Mund und mein Magen gibt ein rebellisches Knurren von sich.

Ich glaube seit dem Apfel in Josephs Kajüte habe ich nichts mehr gegessen. Die Ereignisse haben sich in kurzer Zeit so dermaßen überschlagen. Zuerst bin ich beinahe ersoffen, dann dieses plötzliche Auftreten von Blackbeard und zur Krönung die Tatsache, dass Henry mein leiblicher Vater sein soll. Die ganzen letzten Stunden war mir ständig speiübel. Daran zu denken, dass die Matrosen ihr Brot in der Dunkelheit ihrer Kajüten verdrücken, um die Maden darin nicht sehen zu müssen, lässt meinen leeren Magen etwas rumpeln. Da denke ich doch lieber an das Frühstücksbuffet im Hotel.

„Wie lange brauchen wir noch, bis wir den Hafen erreichen?", höre ich mich sagen.

„Ich denke bis zum Abend könnten wir da sein", antwortet Joseph aufgeregt. Klar, dass er sich freut. 

Bis zum Abend! Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wird sich schon in ein paar Stunden etwas tun. Womöglich kann ich den Fluch brechen und dann von hier verschwinden. Mit Amelie, Lena und Merlin nach Hause. Zurück in die Zukunft. Das wiederum ist doch eigentlich ein geschützter Name oder nicht?

Wir vier Freunde hatten noch nicht einmal wirklich die Gelegenheit zu reden. Ich meine natürlich haben wir uns darüber unterhalten, wie verrückt die ganze Situation hier ist. Aber, ich muss mit Merlin reden. Über Henry. Und über Magda. Es ist alles noch immer so...unwirklich.


„Können wir noch ein wenig Zeit für uns haben?", frage ich Joseph, der am Steuerrad steht. Es ist ein grandioses Bild. Am liebsten würde ich es mit dem Handy fotografieren und später Papa zeigen. Oh wie er sich aufregen würde, wenn er wüsste, dass sein Vorfahre fast genauso aussieht wie er. Hinter Joseph zeigt sich langsam die aufgehende Sonne. So wie gestern Abend betrachte ich den gelb-rötlich schimmernden Ball, wie er sich langsam einen Weg in die Freiheit erkämpft. Bald wir die Sonne sich wieder von ihrer besten Seite zeigen. Jetzt dagegen wirft sie ihre ersten Strahlen auf Josephs Rücken, der die Wärme sichtlich zu genießen scheint. Tatsächlich ist es ziemlich kühl heute Morgen, was mir erst jetzt auffällt. Wahrscheinlich bin ich jetzt richtig wach.

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„Bist du sauer auf mich?", platzt es aus mir heraus. Der Captain hat uns natürlich etwas Zeit für uns geschenkt. Oben an Deck sind wir sowieso nicht sonderlich hilfreich.

Ich schaue Merlin direkt in die grünbrauen Augen und er erwidert meinen Blick. Dieser Junge ist wie ein Bruder für mich. Schon seit Kindheitstagen. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn ich ihn verliere.

„Nein, natürlich nicht", sagt er schließlich. Ich gebe einen erleichternden Laut von mir. Es war falsch von mir an Merlin zu zweifeln. Die Welt könnte untergehen und er wäre noch immer an meiner Seite.

„Ich wundere mich nur, wie es sein kann, dass du Henrys Sohn sein sollst. Das bedeutet ja, dass Magda mich all die Jahre angelogen hat. Ich meine ich weiß ja, dass sie einiges so hingedreht hat, wie es ihr passt, aber alles Lügen? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen."

„Eigentlich wollte ich ja nur diese blöde Wrack besichtigen und den Schatz bergen, den Henry nicht bekommen sollte. Wenn ich gewusst hätte, dass alles so ausgeht, dann..."

Ich beende meinen Satz nicht, weil Lena mir sofort ins Wort fällt.

„Du trägst keine Schuld", meint sie liebevoll. Ich bin ihr dankbar, aber sie weiß genau, dass ich trotzdem so denke. Zumindest ein bisschen. Aber sich daran festkrallen und versteifen bringt auf Dauer nichts, deshalb nicke ich ihr dankbar zu.

„Was ich an dieser Geschichte noch immer nicht verstehe...", beginnt jetzt Amelie. Wie so oft spielt sie mit einer ihrer schwarzen Haarsträhnen. „Dieses Mädchen, das mit Henry verschwand. Wer war sie?"

„Wenn die Geschichte stimmt, dann ist Henry gestorben, als Finn und ich drei waren", meint Merlin. Sein Gesichtsausdruck ist angespannt. Er grübelt offenbar über etwas nach. „ Ich kam aber schon zu Magda als ich zwei war. Zu blöd, dass ich so kaum eine Erinnerung an meine Kindheit habe, bevor ich in den Kindergarten gekommen bin...Vielleicht ist das Mädchen gar nicht gestorben. Was wäre denn, wenn sie gar nicht Magdas Tochter war?"

„Du meinst Naomi?", quiekt Amelie auf.

Es macht fast schon Sinn. So absurd es auch klingen mag.

Und ich glaube langsam wirklich, dass meine Familie und auch Tante Magda ein sehr großes Geheimnis hegen, das sich immer mehr lüftet.

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt