Keinen Aufschub

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Finn

Meine Eltern blicken sich lange an. Dann schauen sie zu Henry und schließlich zu mir.

Mittlerweile sind wir ins Wohnzimmer umgezogen. Ich sitze auf der beigen Couch, lehne mich erschöpft in den weichen Stoff und erlaube es mir für einen Moment die Augen zu schließen. Ich spüre, dass Naomi sich an meine linke Seite setzt. Mühselig reiße ich die Lider wieder auf. Die Erwachsenen bleiben stehen. Keiner von ihnen macht den Anschein sich hinsetzen zu wollen.

Ob Papa es bereut, dass er Mama betrogen hat?

Wie es wohl Lena, Merlin und Amelie im Moment ergeht?

„Wo bist du gewesen, Finn?", fragt Mama. In ihren Augen sehe ich noch immer die Tränen, die sie noch bis eben geweint hat. Immer wieder kommen neue nach, die sie sich dann hastig von den Wangen wischt. „Warum bist du einfach davongelaufen? Wir haben uns fürchterliche Sorgen um dich gemacht"

Ich fühle mich mies. Einfach nur schrecklich. Es ist so offensichtlich, dass meine Eltern froh sind, dass ich wieder hier bin. Aber es ist genauso klar, dass jetzt eine Standpauke kommen wird. Wie sollte ich es ihnen auch verübeln. Ich bin ohne ein Wort verschwunden. Und auch wenn die Reise in die Vergangenheit nicht geplant war, habe ich mich einfach nur egoistisch verhalten. Kindisch trifft es noch besser!

Der Fluch ist gebrochen.

Deswegen ist Henry hier! Er ist tatsächlich am Leben. In unserer Mitte.

Ob Merlin schon Bescheid weiß?

„Das ist eine lange Geschichte", murmele ich erschöpft. Ich gähne herzhaft und reibe mir dann durch die Augen. Ich würde mich so gerne anvertrauen. Aber es ist so viel und ich schaffe es einfach noch nicht. Wie sehr sehne ich mich nach meinem Bett. Einfach nur schlafen. Den Luxus eines Badezimmers genießen. Und am Morgen ein leckeres Frühstück am besten mit Rührei und Speck.

„Am besten ist es, wenn wir morgen miteinander reden", meint Papa ergeben und Mama nickt bestätigend. „Lass uns deine Wunde reinigen, die du dir dort an der Schulter zugefügt hast und dann ab ins Bett."

„Was ist mit Henry?"

„Was soll mit ihm sein?"

„Ihr wisst ganz genau wovon ich rede. Und ich möchte jetzt die ganze Wahrheit erfahren. Nicht erst morgen." Das allerdings lässt keinen Aufschub zu. Ich muss die Worte einfach von Mama und Papa persönlich hören.

Mama seufzt. Papa gibt ein undefinierbares Geräusch von sich. Naomi kratzt sich am Kopf. Henry steht nur da und schaut mich stumm an. Unentwegt, seit er hier aufgetaucht ist.

„Du weißt also schon Bescheid?". Es ist mehr eine rhetorische Frage von Papa. Wir alle wissen die Antwort darauf. „Natürlich tust du das."

„Papa und ich haben uns immer geliebt", fällt Mama ihm ins Wort. „Es ist wichtig, dass du das weißt. Aber die Arbeit im Hotel hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Ich habe mich den ganzen Tag alleine um deine Schwester gekümmert. Papa war immer unterwegs. Es war Neujahr vor beinahe achtzehn Jahren. Andreas natürlich wieder auf Geschäftsreise. Ich fühlte mich alleine gelassen und einsam. Und dann war da Henry. Paps Zwilling, der zufällig Silvester in Butjadingen verbrachte."

„Warum habt ihr mir es nie gesagt", wispere ich. Eine einsame Träne kullert mir über die Wange. Die Wahrheit tut weh. Brennt sich schmerzhaft in mein Herz. „Warum all die Lügen über Henry? Und was ist eigentlich mit Magda?"

„Ich fürchte wir hatten nie den Mumm dazu, dir die Wahrheit zu sagen", gesteht Mama. „Und ich denke mit jedem verstrichenen Jahr hat dieser uns immer mehr verlassen. Wir haben viele Fehler gemacht, aber dir diese Tatsache zu verschweigen, ist immer der größte von allen gewesen. Vielleicht waren wir auch einfach nur egoistisch. Papa hat dich immer so sehr geliebt. Und ich fürchte er hatte einfach nur grausige Angst, dass er dich verliert, wenn du erfährst, dass er nicht dein leiblicher Vater ist."

Papas Blick ist unendlich traurig. Und in Henrys Gesicht schaffe ich es gar nicht zu schauen. Es reicht schon, dass sich seine Blicke in meine Seite brennen. Dieses Gespräch nimmt mich sehr mit. Aber ich muss mich diesem stellen. Es ist längst überfällig. Ich klammere mich an Naomis rechte Hand. Sie erwidert meine Berührung sofort und schlingt ihren Arm vorsichtig über meine Schulter, darauf bedacht, dass dieser blöder Kratzer nicht wieder aufgeht.

„Henry lernte Magda erst ein halbes Jahr nach unserem Ausrutscher kennen. Die beiden verliebten sich sofort ineinander...", beantwortet Mama weiter meine Fragen. „Dein Papa nahm sich fortan mehr Zeit für die Familie. Ich stieg hochschwanger mit in das Hotelbusiness ein, damit ich öfter an seiner Seite sein konnte."

„Hat Papa Henry und dir gleich vergeben können?"

„Nein... Er hat etwas Zeit gebraucht. Wir alle haben einen Fehler gemacht, sahen aber ein, dass du nicht dafür büßen musst. Dein Papa und ich, natürlich auch Henry, wir wollten immer nur, dass du glücklich bist."

Und das war ich auch immer.

Bis auf den Moment, als ich Papa mit dieser Frau gesehen habe.

„Magst du uns erzählen wie es sein kann, dass Henry lebt?", fragt Papa. „Versteh mich nicht falsch. Ich bin unendlich glücklich meinen Bruder wieder an meiner Seite zu haben. Aber es war doch sehr... schockierend, als er vor ein paar Stunden in unserer Tür stand. Zuerst dachte ich natürlich, dass ich träume. Aber dann hat Naomi mich ziemlich schmerzhaft gezwickt. Deine Schwester hat da wie du weißt nicht immer so viel Gnade." Jetzt lächelt er ein wenig.

Oh ja. Meine Schwester war schon immer eine harte Nuss. Und in manchen Situationen auch ziemlich grob. Trotzdem ist sie tief im Inneren die sensibelste Frau, die ich kenne. Und ein herzensguter Mensch. Die beste große Schwester, die ich mir wünschen könnte.

„Das ist eine lange Geschichte", gähne ich schließlich. „Und die sollten wir uns wirklich für morgen aufheben."

„Hey das gilt nicht", meint Papa und versucht sich an einem Grinsen, das aber nicht richtig gelingen mag. So gebrochen habe ich meinen Held noch nie gesehen.

 Er hat Recht.

Für die Wahrheit sollte immer Zeit sein!

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt