Der Briefumschlag

28 5 27
                                    

Lena

Es ist kaum in Worte zu fassen, was sich alles in diesem... Zimmer tummelt. Zuerst fällt mein Blick auf die kleine Messingwaage, von der Finn erzählt hat. Sie ist wirklich nicht groß und trotzdem hat sie mir noch vor Kurzem einen riesigen Schrecken eingejagt. Dabei ist sie wunderschön und so detailreich. Die beiden Waagschalen werden von zwei starken Armen gehalten und diese wiederum befinden sich unter einem starken Fuß, der als Figur geformt wurde. So sieht es aus, als würde diese Person die ganze Last der Waage tragen. Irgendwie wunderschön und doch etwas...außergewöhnlich.

Dann wandern meine Augen weiter zu der Truhe, die in der linken, hinteren Ecke des Raumes steht. Sie hat bestimmt auch schon bessere Tage gesehen. Staub liegt auf dem gewölbten Deckel, das Schloss und die stabilen Eisengriffen an den Seiten der Truhe, sehen ziemlich verrostet aus.

Was sich wohl in dieser alten, ja schon antiken Truhe befindet? Ob der Schlüssel dafür, irgendwo hier versteckt ist? Oh ich hoffe es so sehr. Obwohl ich gleichzeitig etwas Angst davor habe, was sich wohl in dieser Truhe befindet. Es könnte etwas wertvolles sein, aber durchaus auch etwas gefährliches.

Irgendwie schon merkwürdig, dass Magda dieses Zimmer in ihrem eigenen Haus, all die Jahre, die sie hier wohnt, nie betreten hat. Fast schon seltsam.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Tür nicht kennt. Schließlich muss sie ja das alte Sofa davor geschoben haben.

Oder?

In meinen Gedanken versunken, schaue ich mich weiter um. Hinter mir spüre ich Amelie, die nervös, aber doch ziemlich beeindruckt mit Merlin quatscht. Die beiden betrachten wohl gerade den Kompass, den Finn sofort seinem besten Freund in die Hand gedrückt hat. Den werde ich mir wohl später genauer ansehen, schließlich will ich Merlin und Amelie nicht stören. Es ist schön, wenn sie sich unbefangen unterhalten können. Noch schöner wäre es jedoch, wenn sie sich endlich eingestehen würden, dass sie ineinander verknallt sind...

Finn steht vor dem Gemälde, das an der Wand gegenüber der Truhe, hängt. Ich gehe auf meinen Freund zu und schlinge kurz beide Arme um ihn, ehe ich an seine Seite trete. Finn schenkt mir ein kurzes Lächeln, dann starren wir gleichzeitig auf das Gemälde.

Der Bilderrahmen hat etwas an seinem Glanz verloren, aber es ist unverkennbar, dass dieser aus der Barockzeit stammen muss. Die stuckartigen Kunstelemente und das sich immer wiederholende Muster davon, sind filigran in dem hölzernen, vergoldeten Rahmen eingearbeitet worden. Ich kann schon kaum meine Augen davon abwenden, aber staune noch mehr, als ich die Zeichnung darin betrachte. Ein Schiff, das sich auf tosendem Meer befindet. Alleine die Art und Weise, wie die Wellen und das Meer gemalt worden sind, beeindruckt mich sehr.

Doch der Höhepunkt in diesem Zimmer ist definitiv der Schreibtisch. Zwar ist dieser nicht so außergewöhnlich und auch definitiv nicht mehre hunderte Jahre alt und trotzdem ein schöner Blickfang. Das Taschenlampenlicht meines Handys, leuchtet auf das Kastanienholz und trotz der Lichtquelle erscheint er mir etwas düster. Die Tatsache, dass das gute Stück hier seit einer geraumen Zeit, ich rätsele immer noch, wie lange, hier unbenutzt steht, stimmt mich traurig. Ich wäre glücklich, wenn ich so ein Schmuckstück in meinem Zimmer haben könnte. Vor allem die feinen Verzierungen an den beiden Schubladen, rechts und links, stimmt mich glücklich. Ich habe ein echtes Faible für Möbel aus Massivholz.

Als ich näher an den Schreibtisch herantrete, um die Dinge, die sich darauf befinden, anzuschauen, bemerke ich als erstes einen Briefumschlag. Durch das Licht meiner Handytaschenlampe schimmert er leicht goldfarben. Das Papier sieht noch ziemlich unbeschädigt aus, trotzdem ist es an den Seiten leicht vergilbt. Auf dem Umschlag liegt ein Füller, ein schönes Exemplar, mit einem roten Griff. Die Federspitze liegt verkehrt herum auf dem Brief und ganz sicher, ist der darauf sichtbare Rest der Tinte, längst ausgetrocknet. Vielleicht wurde der Verfasser oder Empfänger dieses Brief, bei seiner Arbeit unterbrochen oder sogar... gestört. Auch das Tintenfass, das sich am oberen rechten Ecks des Briefumschlages befindet, ist noch geöffnet und der Deckel liegt daneben. Mit dieser Tinte ist auf jeden Fall nichts mehr anzufangen. Neugierig versuche ich die Worte auf dem Briefumschlag zu entziffern. Es fällt mir schwer, weil die Handschrift ziemlich schnörkelig ist. Trotzdem gelingt es mir erstaunlicherweise sehr gut und ich bin etwas stolz auf mich. An manchen Tagen kann ich nicht einmal meine eigenen handgeschriebenen Notizen entziffern. Mir klappt der Mund auf, als es in meinem Kopf nach und nach Klick macht. Der Empfänger des Briefes ist doch tatsächlich... Magdas Ehemann, der auf der See verschwunden ist. Und der Absender? Ich schaue ein zweites und dann drittes Mal darüber, aber es bestehen keine Zweifel...

Das kann unmöglich sein!

Ich stupse meinen Freund an, der noch immer das Gemälde mit dem Schiff betrachtet und als ich endlich seine Aufmerksamkeit habe, deute ich fuchtelnd und mit offenem Mund auf den Brief. Finns Pupillen huschen rasant über die Zeilen.

„Das gibt es doch nicht"; keucht er schließlich. Er krallt seine Fingernägel in das Holz des Schreibtisches und mir blutet das Herz. „ Das kann nicht wahr sein".

Ja?!

Wie kann es sein, dass ein längst verstorbener Vorfahr von Finn, einen Brief an Merlins Onkel sendet? Die beiden trennen mehrere Jahre. Und mit mehreren Jahren, da meine ich mehre hunderte Jahre! Rein logischerweise ist das unmöglich.

Nein es ist unmöglich!

Und wieso ist der Brief ungeöffnet? Warum liegt der Füller darauf? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Da sind so viele Fragezeichen in meinem Kopf. Vielleicht helfen die Unterlagen, die sich unter dem Brief, befinden. Es sind Skizzen, so viel kann ich sehen. Unsicher schiebe ich den Brief zur Seite, damit ich einen besseren Blick auf die Papiere habe.

Das alles ist nur Gekritzel. Sehr verwirrende, keinen Sinn gebende, Zeichnungen für mich. Am liebsten würde ich mir durch die Haare raufen. Das hier ist wie eine schwere Mathehausaufgabe für mich. Etwas, das wie ein Viertelkreis aussieht und darunter etwaige Berechnungen. Meine Augen huschen über das Papier, aber ich verstehe nur Bahnhof.

Doch ein kleines Detail leuchtet mir ein. Es ist das Datum und die Unterschrift, die sich ganz unten auf dem Papier befinden. In geschwungenen Linien, fast schon gemalt, steht da 04.04.1716. Und kaum zu entziffern eine Unterschrift.

Joseph Aalbert

„Das kann nicht sein...",murmelt Finn. Er steht noch immer etwas versetzt neben mir und schaut mit leicht geöffneten Lippen und gerunzelter Stirn auf das Papier. Jetzt haben wir auch die Aufmerksamkeit von Amelie und Merlin. Kann es sein, dass die beiden sich tatsächlich etwas näher gekommen sind. Irgendwie wirken sie auf einmal so... vertraut miteinander. 

Was hat all das hier zu bedeuten?

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt