Eine Familie?

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Finn

Es hat lange gedauert meiner Familie die Wahrheit zu erzählen. An vielen Stellen habe ich mich verhaspelt und musste wieder von vorne anfangen. Seit ich angefangen habe zu erzählen, hat mich keiner unterbrochen. Nur für die kurzen Momente, in denen einer von uns schnell auf die Toilette musste oder etwas zum Trinken holen wollte. Bestimmt ist es längst nach Mitternacht. Aber Zeit war in den letzten Tagen auch unrelevant. Am Handy war ich seit meiner Heimkehr nicht mehr. Ich habe es noch nicht einmal zum Aufladen an die Steckdose gehängt. Kein Plan ob es überhaupt noch funktioniert...

Mittlerweile sind meine Augenlider bleischwer. Nur mit Mühe schaffe ich es sie offen zu halten. Die Umrisse meiner Eltern verschwimmen vor meinen Augen. Meine Sicht klart sich nicht mehr auf. Da hilft es auch nichts, dass ich mir durch die Augen reibe. Jetzt will ich nur noch das Brennen, das von ihnen ausgeht, löschen.

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Als ich aufwache liege ich auf meinem Bett und in meinem Zimmer. Wieder hier zu sein, fühlt sich an, wie nach einem langen Urlaub. Wenn man die erste Nacht wieder im eigenen Bett schläft und alles so vertraut und gleichzeitig doch etwas fremd ist. Bestimmt hat Papa mich nach oben getragen. Ich bin doch tatsächlich auf dem Sofa eingeschlafen. Mein Blick wandert auf die Uhrzeit auf meinen Wecker. Es ist längst Mittag vorbei, was sich auch deutlich an der Sonne zeigt, die sich durch meine geschlossenen Vorhänge drücken möchte. Wie gut, dass der Stoff sie zum größten Teil daran hindert. Ich bin noch immer viel zu schlaftrunken.

Gähnend tapse ich barfuß durch mein Zimmer. Außer meiner Boxershort habe ich nichts an. Jetzt erstmal eine heiße Dusche. Von unten aus der Küche strömt mir ein herrlicher Geruch entgegen. Er steigt sofort in meine Nase und mein Magen quittiert das Ganze mit einem lauten Knurren. Bestimmt ist Mama gerade dabei Pfannkuchen zu machen. Speichel sammelt sich in meinem Mund, aber das Duschen hat definitiv Vorrang.

Das heiße Nass rinnt über meinen Körper und ich genieße es in vollen Zügen. Obwohl ich sonst immer sehr schnell in der Dusche fertig bin, brauche ich heute eine ganze Weile. Ich wasche den ganzen Dreck der letzten Wochen weg. Genau zweieinhalb Wochen waren wir in der Vergangenheit. Es erschien mir aber wie eine Ewigkeit. In wenigen Tagen geht die Schule wieder los. Der Alltag wird wieder beginnen, dabei fühlt es sich im Moment noch gar nicht so an.

Es ist so vieles passiert. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir es verdaut haben. Wir alle!

Schließlich sitze ich frisch geduscht am „Frühstückstisch". In ein paar Stunden ist schon wieder Zeit für das Abendessen und trotzdem serviert Mama Rührei mit Speck. Pfannkuchen mit Ahornsirup und Waffeln mit Apfelmus. Ich schlinge die Köstlichkeiten nur so in mich hinein. Papa und Naomi schauen mich kurz verdutzt an, während Mama nur selig grinst. Sie ist immer total glücklich, wenn uns das Essen schmeckt. Wahrscheinlich ist sie aber auch nur froh, dass wir wieder alle zusammen an einem Tisch sitzen. In den letzten Monaten habe ich ihr viel zu wenig für...alles gedankt. Also stehe ich auf, umrunde den Tisch, weil sie mir gegenüber sitzt und gebe ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange. Das führt dazu, dass Mama wieder in Tränen ausbricht.

„Ich bin so glücklich", schluchzt sie. „Jetzt wird alles wieder gut werden."

Ich hoffe doch sehr!

Henry ist nicht mehr hier. Vielleicht habe ich auch nur fantasiert, dass er gestern Nacht hier war. Alles ist noch so verwirrend... Ich muss meine Freunde sehen. Da ist ja auch noch die Schatzkiste auf Magdas Dachboden. Ich brauche einfach die Gewissheit, dass sie wirklich von Blackbeard ist. Und vielleicht treffe ich dort auch noch einmal auf Henry.

Ob diesem bewusst ist, dass er in einem früheren Leben mal ein berüchtigter Pirat war?

Wie es wohl Black J und ihm im Moment ergeht?

Damals in der Vergangenheit...

„Wann stand Henry vor eurer Haustüre?", frage ich.

„Ein paar Stunden bevor du wieder nach Hause gekommen bist", meint Mama.

„Er war also real? Ich habe doch nicht fantasiert? Ich dachte schon der Schlafmangel lässt mich Dinge und Personen sehen, die eigentlich gar nicht da sind."

„Henry war eindeutig hier", bestätigt Papa. „Er hat erzählt, dass er endlich zurück ist. Jahrelang verschollen auf der See. Immer auf der Suche nach einem Heimweg. Ehe sich ein Portal öffnete, das ihn direkt hier her brachte. Er hat die Nacht bei sich zuhause verbracht. Am Morgen wollte er unbedingt auf Merlin treffen."

Das heißt also, dass Henry verschollen blieb. Dreizehn Jahre lang. Bis zu dem Moment, an dem ich in der Vergangenheit den Fluch gebrochen hatte. Unsere Heimkehr bedeutete seine. Und seine Tochter?

„Was ist mit der Tochter von der Magda immer erzählt hat? Und die mit Henry verschwunden ist?"

„Sie hat es nie gegeben", gesteht Mama und sie wirkt dabei niedergeschlagen. „Magda war schwanger, als Henry damals verschwand. Leider hat sie das Kind ziemlich am Anfang der Schwangerschaft verloren. Sie muss diesen Verlust in die Geschichten um ihren verschollenen Ehemann eingebaut haben. Es hat ihr wohl geholfen darüber hinwegzukommen.

„Das ist wirklich traurig."

„Zum Glück gab es da diesen kleinen Kerl mit den rotbraunen Haaren, der ihr wieder neuen Lebensmut schenkte."

„Wer sind eigentlich die Eltern von Merlin gewesen?"

„Meine Schwester Simone und ihr Ehemann Rainer", sagt Papa.

„Ihr hattet noch eine Schwester?", frage ich erstaunt.

Gibt es noch mehr Tanten und Onkel oder Mamas und Papas von denen ich nichts weiß?

„Sie war Henrys und meine kleine Schwester und lebte in Stuttgart. Doch etwas entfernt von Butjadingen. Wir hatten nicht oft Kontakt. Was wohl der Distanz geschuldet war. Nach dem Autounfall, der Merlin die Eltern nahm, stand gleich fest, dass dieser zu Henry und Magda kommen sollte. Es gab da ein Testament, in dem das geschrieben stand. Mein Bruder und meine Schwester hatten eine engere Beziehung zueinander. Etwas, das ich leider versäumt habe."

„Weiß Merlin all das?"

„Ich bin sicher Magda wird ihm endlich die ganze Wahrheit offenbaren. Sie wird es müssen. Es ist ja jetzt nicht mehr zu übersehen, dass Henry und Merlin aus einer Familie stammen. Es ist krass, wie viel der Junge von seinem Onkel geerbt hat. Zumindest äußerlich. In den letzten Jahren hat es sich immer mehr herausentwickelt."

„Dann sind wir jetzt alle eine Familie?"

„Das waren wir schon immer...Aber ich denke jetzt ist es offiziell!"

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt