Eine Millisekunde

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Finn

Mulmig ist mir schon etwas, als ich Susanna folge. Sie will uns zu ihrer Hütte bringen und dort mit uns reden. Wohl viel mehr mit mir. Seither hat sie kein weiteres Wort gesagt, stattdessen schwebt sie förmlich in Richtung Ausgang des Pubs. Dutzende Augen folgen ihr dabei. Kein Wunder, ihr Gang ist federleicht und passt außerordentlich gut zu ihrem Erscheinungsbild. Ich würde sie eher eine Fee nennen, denn eine Hexe.

Auch wenn ich mir trotzdem ziemlich unsicher bin, ist es momentan die beste Lösung und hoffentlich wird sich sehr bald zeigen was genau meine Aufgabe sein wird. Amelie und Lena sind sichtlich erleichtert, dass sie nicht länger in diesem Pub bleiben müssen. Stickig ist es hier drinnen schon ein wenig und es stinkt nach Zigarrenqualm. Außerdem ist das Grölen der Betrunkenen wirklich nicht schön anzuhören.

Draußen dämmert es bereits zum Abend und das Wetter hat sich auch etwas verändert. Es ist ziemlich frisch geworden und ein leichter Nieselregen hat eingesetzt. Das Kopfsteinpflaster schimmert im Licht der Laternen. Diese sind in der Luft durch etwas, das wie Ketten aussieht, zwischen den Hütten aufgehängt. Viel Helligkeit spenden sie aber nicht. Daher bleibe ich Susanna dicht auf den Fersen, damit wir sie nicht verlieren. Sie bahnt sich schon längst einen Weg durch die Gassen, scheint jeden Winkel hier in und auswendig zu kennen. 

Unser Weg führt uns an einer Schmiede vorbei. Ein paar Werkzeuge lehnen an der geöffneten Tür. Als nächste passieren wir eine Gaststätte, die ein ähnliches Messingschild neben der Eingangstür hängen hat wie der Pub. Richtig erkennen kann ich den Namen und die Zeichnung aber nicht. Eine Horde von Männern und Frauen stehen vor dem Wirtshaus und unterhalten sich aufgebracht. Ich bin froh, dass sie uns nicht wirklich Beachtung schenken. 

Trotz der einkehrenden Dunkelheit ist in den schmalen Gassen ein geschäftiges Treiben. Zwei Männer stehen bei einer Kuh und diskutieren wild miteinander. Das Tier gibt seinen Senf dazu und muht immer wieder laut auf. Ein paar Schritte weiter, bückt sich ein kleines Mädchen nach einem Stück Brot, das ihr offensichtlich heruntergefallen ist. Ich drücke mich gerade vorsichtig an den beiden Männern mit der Kuh vorbei, als ich plötzlich ein schmerzhaftes Jaulen höre. Es kommt so urplötzlich und lässt mir die Haare an meinen Armen zu Berge stehen. Reflexartig drehe ich mich um und sehe Merlin, der auf dem Boden kniet und sich beide Hände in den Bauch drückt. Hinter ihm Black J, der ebenso verdutzt dreinschaut, wie Amelie und Lena.

Im Augenwinkel sehe ich wie ein paar Dutzend Männer auf uns zugestürzt kommen. Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie sie da sind. In den Händen halten sie ziemlich spitze Dolche. Die Gesichter sind von schwarzen Masken verdeckt, nur die Augen stechen deutlich hervor. Ein einziger von ihnen kommt näher auf mich zu. Ziemlich dicht an mich heran, so dass ich seinen Atem spüren kann. Grimmig betrachten mich zwei bernsteinfarbenen Augen, die mich sofort an die Kette mit dem Delfinanhänger erinnern, die Mama immer so gerne trägt. Sie liebt diesen Schmuckstein, was auch erklärt, warum meine Eltern das Familienhotel umbenannt haben. Eine Bedingung die Mama hatte, ehe sie vor vielen Jahren in das Geschäft mit eingestiegen ist.

Obwohl ich stark bleiben möchte, merke ich wie ich zu zittern beginne. Mein Herzschlag beschleunigt sich rasant und Übelkeit steigt in mir auf. Hoffentlich kann ich mich auf den Beinen halten.

Was geschieht hier?

„Merlin...", höre ich Amelie entsetzt kreischen. „ Was hast du? Was ist passiert?"

Zu meinem Erstaunen wird sie nicht daran gehindert, als sie zu ihm hechtet. Sofort geht sie vor ihm in die Hocke und fährt ihm vorsichtig über das Gesicht. Leise spricht sie ihm beruhigende Worte zu.

"Er  ist zusammen mit der Hexe gesichtet worden", höre ich eine tiefe Stimme laut sagen. Die Worte sind an die Männer gerichtet, die uns umzingeln. Kein anderer ist mehr auf der Straße. Die Bewohner haben sich allesamt in ihre Hütten verzogen. Es ist still geworden. Fast schon zu still. Die gerade gesprochenen Worte dagegen sind viel zu laut. „Es kann nur der Junge sein. Der Captain ist auch bei ihm. Es spricht alles dafür. Endlich ist der Tag gekommen, Männer!"

Panik macht sich wie ein Lauffeuer in mir breit. Ist es möglich, dass es hier schon wieder um mich geht? Ist mein bester Freund tatsächlich meinetwegen attackiert worden? Hoffentlich geht es ihm gut! Merlin darf nichts schlimmes passieren. Erst recht nicht in der Vergangenheit.

„Dann schnappt ihn euch", befiehlt der Mann mit den bernsteinfarbenen Augen. Er hat sich keinen Meter von der Stelle gerührt. Er müsste nur nach meinen Armen greifen und schon hätte er mich. Ein Stich mit seiner Waffe würde genügen... Aber das erscheint zu einfach. Bestimmt denkt er genau dasselbe. Diesen Fakt muss ich ausnutzen. Irgendwas muss mir einfallen...

„Lauft...", schreit Joseph in Richtung meiner Freunde. Wir stehen so dicht beieinander, dass ich Lenas hektischen Atem in meinem Nacken fühlen kann. Obwohl er beinahe siedend heiß ist, hinterlässt er nichts als Kälte, als sie tatsächlich verschwindet.

Ich sollte froh sein, aber...

Mein Blick gleitet auf den Boden direkt vor meinen Füßen. Auf den grauen, eiförmigen Steinen des Kopfsteinpflasters, liegt eine Waffe. Ganz klar ein Dolch mit einem Knauf, in dem ein hellblauer Stein eingesetzt ist. Dieser schimmert im Licht der Laterne über mir und wirft seinen bläulichen Schatten auf die Pflastersteine. Der Handgriff des Instruments ist vergoldet, wirkt in der Dunkelheit aber eher schwarz. Darauf zeigt sich deutlich ein eingearbeitetes Zackenmuster. Der Parier hat die selbe Farbe und schimmert durch das darauf fallende Licht in voller Pracht. Außerdem besitzt er ein zusätzliches, sehr filigranes Muster. Es sieht fast aus wie feinste Linien, die miteinander verwebt sind. Erschrocken blicke ich auf das Werkzeug unter mir. Auf die lange und sehr dünne Klinge. 

Das hier ist mehr als nur ein Spielzeug!

Eiskalter Schweiß rinnt mir über die Stirn.

Es bleibt nur eine Millisekunde Zeit zum Überlegen.

Doch ehe ich eine Entscheidung treffen kann, wird vor meinen Augen alles schwarz.

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt