Einzelne Puzzleteile

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Lena

„Wir sollten versuchen uns zu informieren...",  schlägt Amelie vor. „Darüber, was hier vor sich geht. Alles ist so... fremd hier. Ich denke ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir so schnell wie möglich wieder nach Hause möchten. Wir müssen die einzelnen Puzzleteile irgendwie zusammensetzen, dann kommen wir ganz sicher auf eine Lösung. Und dann ist diese Reise ins Ungewisse bald hoffentlich nur noch Stoff für unsere Albträume".

„Das wäre zu schön." Finns Stimme klingt beinahe sehnsüchtig. Er schließt für einen kurzen Moment die Augen und als er sie wieder aufreißt, sehe ich die Enttäuschung in seinem Gesicht. Die dunkelbraunen Pupillen, die ich so gerne betrachte, schauen finster und unglücklich. Das sonst so zarte und etwas hellere Pigment in ihnen, das mich immer an ein schüchternes Rehkitz erinnert, ist unter einem tiefbraunem Mantel verborgen.

„Da wäre mein Onkel...", schreckt mich Merlin aus meinen Gedanken. Ich wende meinen Blick von Finn und fokussiere mich stattdessen auf meinen Kumpel. „Onkel Henry muss wichtig sein, schließlich hat er diesen Brief von Black J erhalten. So absurd es auch klingen mag." Eine leichte Röte ist auf Merlins blassen Wangen zu erkennen. Ich kann die Aufregung, die er gerade fühlen muss, richtig nachempfinden.

„Ja ganz genau. Und ich glaube wir haben in letzter Zeit vieles erlebt, das eigentlich unmöglich sein sollte. Ich würde mich nicht wundern, wenn Black J tatsächlich Kontakt zu Henry aufgenommen hat. Er wird sich einen Weg gesucht haben", bestätigt Amelie. Das führt dazu, dass Merlin noch röter wird. Seine Wangen nehmen Konkurrenz mit seiner Haarfarbe auf. Doch die Schüchternheit scheinen Amelie und er abgelegt zu haben. Sie kichern sich an und berühren sich ziemlich unauffällig auffällig mit den Fingerspitzen. Es scheint, dass die beiden es auch ohne Finns und meine Hilfe schaffen werden, bald ein Paar zu sein. Irgendwas Gutes muss schließlich auch hier in der Vergangenheit passieren.

„Dann müssen wir herausfinden, was genau der Fluch ist, der auf Black J liegt", sagt Finn.

„Eins nach dem anderen", unterbreche ich meinen Freund sanft. „Wir sollten uns erst damit beschäftigen, was genau Onkel Henry mit allem zu tun hat. Sonst bricht wieder nur das Chaos aus."

„Und wie genau können wir das rausfinden. Hat jemand eine Idee?", fragt Finn.

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Black J und Blackbeard sind noch immer im Gespräch. Ich versuche mich stattdessen mit den Männern zu unterhalten. Irgendwo müssen wir schließlich anfangen. Die meisten sind aber nicht wirklich gesprächig. Ein paar andere tatsächlich stumm und die ziemlich abgefahrene Zeichensprache, die sie beinahe...performen, ein einziges Rätsel für mich.

„Einen Henry kenne ich nicht", brummt mir schließlich einer von ihnen eine Antwort. Ein kleiner, rundlicher Mann, der gerade dabei ist das Holz zu schrubben. Er kniet auf den feuchten Dielen und schaut aus grünen Pupillen, zu mir hinauf. „In dem kleinen Dorf, in dem ich früher einmal gelebt habe, da gab es mal den Sohn einer Hexe, der Henry hieß. Allerdings ist der Gute gestorben, noch bevor ich auf diesem Schiff hier angeheuert habe. Das ist ungefähr fünfzehn Jahre her."

Ich bedanke mich freundlich und er schenkt mir tatsächlich ein Lächeln. Wenn auch ein ziemlich grimmiges, aber es ist besser als nichts. All die Männer auf diesem Schiff haben eine Aufgabe. All diese sind anstrengend und manche von ihnen ziemlich eintönig. Und so blöd es klingt, irgendwie komme ich mir gerade dämlich vor, dass wir Vier Freunde so gar nichts tun. Wahrscheinlich denkt die Crew, dass wir ein paar verwöhnte Adelskinder sind, die einen guten Preis mit sich bringen. Wahrscheinlich erhoffen sie sich, dass wir am nächsten Hafen von Bord gehen. Vielleicht werden wir auch nur deswegen von ihnen geduldet und sind noch nicht von ihnen angegriffen worden.

In Schwarzmalerei war ich schon immer ein Genie.

Auf der anderen Seite. Bis zu dem Stück Land sind wir noch ein paar Tage unterwegs. Vielleicht klärt sich bis dahin auch einiges einfach von selbst.

Es ist ein Wunder, das wir jetzt brauchen.

„Ich denke hier kommen wir nicht wirklich weiter", murmele ich in die Richtung meiner Freunde.

Amelie legt ihren Arm um meine Schulter und als sich unsere Blicke treffen, schenke ich ihr ein kleines Lächeln, das mir dummerweise misslingt. Meine Mundwinkel schnellen förmlich nach unten. Verzweiflung und Angst zerrt an mir. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Es wird sich alles geben. Ich rede mir das immer wieder ein, seit wir hier sind. Doch im Moment, scheint es einfach zu viel. Es geht nicht mehr. Ich spüre den nagenden Schmerz in mir, die Sehnsucht nach zuhause. Fühle mich wie mein neunjähriges Ich, das im Zeltlager in Tränen ausgebrochen ist, weil es so starkes Heimweh hatte.

Jetzt sind es auch die Jungs, die sich an mich klammern. All die vertrauten Gerüche der Menschen, die ich seit Jahren kenne und sehr liebe, steigen mir in die Nase. Geborgenheit gesellt sich zu dem Schmerz und will ihn vertreiben-

„Ich habe so schreckliches Heimweh", bricht es schließlich aus mir heraus.

„Und ich erst", schnieft Amelie dicht neben mir. „Ich vermisse sogar Oskar, den kleinen Nervenpups".

Wir alle haben uns noch nicht getraut die Frage der Fragen zu stellen. Nämlich, was wohl gerade zuhause für ein riesiges Chaos herrscht. Unsere besorgten Eltern und Tante Magda, die fieberhaft nach uns suchen. Ich kann die Verzweiflung unserer Familien richtig spüren. Die Ungewissheit, durch die sie gerade gehen müssen. Die Tatsache, dass es schon mehrere Wechsel von Sturm zu Ebbe gab. Ich bereue es, dass ich meinen Eltern nichts von der Wattwanderung erzählt habe. Und trotzdem bin ich auch froh, dass sie es nicht wissen. Es würde sie nur an den Rand ihrer Verzweiflung treiben...

Oh, ich halte das nicht aus.

Reise ins UngewisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt