Ich lag hellwach in meinem Bett. Ich hatte mich von einer Seite auf die andere gewälzt und vergeblich versucht, einzuschlafen. Trotz meiner Erschöpfung vom langen Tag, kreisten meine Gedanken kontinuierlich im gleichen Kreis.
Mitten in der Nacht fühlte ich, dass ich etwas tun musste, um mich zu beruhigen. Entschlossen stand ich auf, schlenderte zum Schreibtisch und ließ mich verzweifelt auf den Stuhl fallen. Die Dokumente vor mir starrten mich förmlich an.
Es waren etwa dreißig Blätter, beidseitig bedruckt und mit einem Tacker zusammengeheftet. Eigentlich hatte ich den Auftrag, diese Dokumente zu rekuperieren und sie Farmacia sofort zu übergeben. Aber bisher hatte ich keine Eile gehabt.
Normalerweise war ich unter dem Kürzel „absolut loyal" bekannt. Doch die überwältigende Neugier, als ich endlich die Dokumente in den Händen hielt, konnte ich nicht ignorieren.
Dennoch hatte ich mich bisher nicht getraut, sie auch nur anzusehen. Jetzt starrte ich die Dokumente einfach nur an. Was, wenn Ms. Tung herausfand, dass ich die Unterlagen von Dr. Beckmann gelesen hatte? Morgen sollte ich sie sofort überreichen!
Aber andererseits, wenn ich die Akte jetzt schon hatte... Nun ja, dann konnte ich sie mir wenigstens anschauen, dachte ich. Die Blätter zogen mich förmlich an, und ich konnte meine Neugierde nicht mehr zurückhalten. Zögerlich begann ich zu lesen:
Freitag, 09. Dezember 1986, 21:36
Universität RothfussHeute verbrachte ich Stunde um Stunde im Labor. Wenn ich meine Doktorarbeit rechtzeitig abgeben will, muss ich mich echt beeilen.
Seit Monaten hatte ich mich jetzt schon mit meinem Professor in den Haaren und ausgerechnet heute ist er bei mir aufgekreuzt, um mich nach Ergebnissen auszuquetschen.
Auch wenn ich sie hätte liefern können, das Einzige, was er nur noch von sich gab, war: Blutuntersuchung? Was eine Verschwendung!
Am späten Nachmittag hatte dann Rose angerufen, weil sie fürs Wochenende zu ihren Eltern gefahren war. Nach ein paar Minuten musste sie jedoch schon wieder auflegen, denn ihr kleiner Bruder hatte eine Schreiattacke. Also quetschte ich mich mit meinem aufgewärmten Essen und einem guten Buch aufs Sofa.
Ich überflog die weiteren Einträge und blieb bei einem hängen, der fast genau ein Jahr später verfasst wurden:
Dienstag, 24. November 1987, 20:10
Wohnung in BostonEndlich sind auch meine restlichen Sachen in Boston angekommen. Der Umzugswagen stand tagelang im Stau und ich ohne Möbel in meiner neuen Wohnung.
Hier werde ich nun in wenigen Tagen meinen ersten Job bei Linopharm antreten und gehe vor schlotternden Beinen fast ein. Wie soll das denn erst mal werden, wenn ich dort jeden Tag ein- und ausgehe?
Meine Urkunde für meine Doktorarbeit habe ich mir stolz einlaminiert und über meinen Schreibtisch aufgehängt, sodass ich mich jeden Tag daran erinnern kann, wie weit ich es geschafft habe! Meine Forschungen bei Linopharm fortführen zu dürfen ist eine Ehre für mich.
Rose wird bald nachkommen. Das hat sie mir zumindest versprochen. Ohne sie fühle ich mich so einsam....
Ich übersprang schnell den Teil, wo der anonyme Verfasser stundenlang kitschig über seine Gefühle für Rose trällerte, und öffnete stattdessen meinen Laptop und gab in die Suchleiste „Linopharm" ein. Direkt ploppten unzählige Seiten auf und ich klickte auf den ersten Link.
Eilig scannte ich einen Artikel über einen Arzt, Dr. Lino, der prahlend Rede und Antwort stand zu seiner neuen Idee, eine eigene Pharmaziefirma zu gründen, wobei der fragende Reporter ihn zum Narren hielt.
Weiter klickte ich mich durch verschiedene Webseiten und gelang auf einen Artikel mit der Überschrift: „Kampf um die Versöhnung". Wenige Jahre, nachdem der Verfasser des Tagebuches bei Linopharm zu arbeiten begonnen hatte, sei die Firma ins tiefste Minus gerutscht und sei zum Verkauf gezwungen worden. Eine Konkurrenzfirma habe Linopharm erworben und sämtliche Forschungsarbeiten übernommen.
Schnell öffnete ich eine neue Suchleiste und fand diesmal direkt Artikel über den Verkauf von Linopharm: Das seit Jahren konkurrierende Pharmazieunternehmen „Farmacia" erwarb Linopharm für mehrere Millionen.
Mit wachsender Verwirrung blätterte ich weiter durch die Tagebucheinträge des anonymen Verfassers. Die unerwartete Enthüllung, dass dieser für Farmacia gearbeitet hatte, warf unzählige Fragen auf. Warum wurde ich beauftragt seine Aufzeichnungen wieder zu finden? Und wie gelangten diese sensiblen Dokumente in die Hände von Dr. Beckmann?
Dienstag 02. September 1990, 14:25
Boston, FarmaciaSchnell habe ich mir noch einen Kaffee gedrückt (ohne den kann ich mich keine weitere Minute konzentrieren) und habe mich gemütlich in der Mensa einquartiert, um meine Versuchsergebnisse festzuhalten.
Wir machen absurde Fortschritte, die mich nachts nicht schlafen lassen, denn wir haben endlich jemanden gefunden, der sich uns freiwillig zur Verfügung stellt. Wahnsinn, wie schnell ihre Wunden heilen! Es faszinierte mich jedes Mal.
Ein kleiner Schnitt und schon ist die Wunde nur noch ein blassrosa Streifen. Das lag an der absurden exponentiellen Replikation der weißen Blutkörperchen, sodass die Cruormutation eine unfassbar schnelle Heilung hervorruft.
Durch meinen Kopf schossen unfassbar viele Fragen und die Neugierde auf Antworten erstickte mich förmlich. Fast panisch blätterte ich weiter und entdeckte einen Brief:
Samstag 14. Juli 1993, 8:15
Liebe Rose,
ich schaffe das alles nicht mehr. Ich muss hier weg! Bitte sei mir nicht böse. Ich weiß, dass wir auf mein Geld angewiesen sind, um unsere kleine Familie ernähren zu können, aber ich kann diesem Leiden nicht mehr in die Augen sehen.
Es sind Kinder! Kinder, die von ihren Familien getrennt werden, um ihnen Cruorzellen entnehmen zu können.
Farmacia hat es geschaffte, die erste Infusion zu entwickeln. Die erste Infusion, die es geschafft hat einen Krebspatienten zu heilen. Noch sind sie nicht so weit, die Infusion auf den Markt zu bringen, aber lange wir es nicht mehr dauern!
So viele Wunden, Qualen und Operationen mit schweren Folgen waren dazu nötig. Wie viele werden noch nötig sein, bis Farmacia endlich dieser Brutalität ein Ende setzt? Wenn auch der Letzte der Cruor in sich trägt schreiend zusammenbricht?
Meine Entdeckung hätte niemals so Enden dürfen! Was haben sie nur gemacht? Sobald ich kann, werde ich zu dir zurückkommen und meine Forschungsarbeit beenden.
Grüße von deinem Liebsten
Maximilian BeckmannGeschockt starrte ich den Brief an und legte eine Hand auf meinen offenen Mund. Ich las immer und immer wieder die zahllosen Einträge und Briefe und starrte gebannt auf die beschriebenen Blätter. Die Worte in dieser Nachricht hatten die Macht, mein ganzes Leben in Frage zu stellen und erschütterten meine Überzeugungen. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen, unfähig mich zu bewegen oder zu denken.
Beckmanns eigene Tagebüchereinträge und Briefe hatte er also mit seinem Wissen bei seiner Flucht mitgenommen und die einzigen aussagekräftigen Mitschriften jahrelang versteckt -
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Cruor
Fiksi RemajaCruor - ein Mittel, das Leben rettet. Ein Mittel, das einen Preis fordert, den diejenigen zahlen müssen, die Cruor in sich tragen. Aber es ist ein Preis, den diejenigen nicht zahlen wollen! ------------------------- Helena, zieht nach dem Verlust ih...