Adriana 13

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Nachdem Helena aus der Mensa verschwunden war, stand auch ich auf. Ich platzierte meinen Teller auf dem Wagen mit dem benutzten Geschirr. Anschließend setzte ich mich noch einen Moment zu Alex an den Tisch und quetschte ihn noch ein wenig über Helena aus. Er war wie immer gesprächsfreudig, und ich erfuhr mehr, als ich gedacht hatte.

Dann bewegte ich mich durch die langen Flure zur Krankenhausabteilung der Patienten. Die Gänge waren überfüllt von aufgewühlten Ärzten, die eilig unterwegs waren.

An einer Zimmertür blieb ich stehen, klopfte leicht an und öffnete dann die Tür, ohne auf eine Antwort zu warten. Im Zimmer sah ich Timothee, der sich in seinem Bett aufgesetzt hatte und mich mit großen Augen betrachtete.

„Adri!", strahlte der 13-jährige Junge und klopfte auf den freien Platz neben sich im Bett. „Komm her, setz dich!" Ich ließ mich auf dem Bett nieder und lächelte zurück.

"Morgen darfst du nach Hause", sagte ich zu Timothee, der nur von einem dünnen Kittel bedeckt war. Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter. "Ja, endlich!", antwortete er mit einem strahlenden Gesicht und undurchdringlich blauen Augen.

„Ich werde so viele Dinge nachholen, die ich verpasst habe", erzählte Timothee aufgeregt. „Meine Freunde haben mir erzählt, dass sie diesen Sommer am See campen wollen. Das möchte ich auf keinen Fall verpassen!"

„Das klingt aufregend!", sagte ich, während ich ihm aufmerksam zuhörte. "Was habt ihr dort vor?"

Timothee strahlte und erzählte weiter: „Am See gibt es einen geheimen Ort, den wir entdecken wollen und wir wollen Picknicken, Schwimmen und alles Drum und Dran!"

Ich konnte mir gut vorstellen, wie wichtig diese Pläne für Timothee waren. Seine Augen funkelten vor Vorfreude.

„Das hört sich nach einer Menge Spaß an. Du wirst sicher eine großartige Zeit haben", stimmte ich ihm ebenfalls begeistert zu.

„Ja, und vielleicht kann ich auch endlich wieder Fußball spielen", sagte er mit einem breiten Grinsen. „Ich vermisse es so sehr, auf dem Platz zu stehen und Tore zu schießen."

Es war berührend zu hören, wie sehr Timothee sich auf die einfachen Dinge des Lebens freute. Wir lachten gemeinsam über seine Geschichten, und es war, als ob die Zeit im Krankenhaus für einen Moment vergessen wäre.

Timothee strahlte vor Energie und es war kaum zu fassen, dass er vor kurzem noch so schwach gewesen war. In den vergangenen Wochen hatte er nicht nur an Gewicht zugenommen, sondern seine Haare sprießten wieder hervor. Leichte rosa Wangen verliehen ihm wieder einen gesunden Glanz.

Dann wurde die Tür zum Zimmer geöffnet und eine Krankenschwester trat ein. „Entschuldigen Sie, dass ich störe", sagte sie freundlich. „Aber es ist Zeit für Timothees letzte Untersuchung."

Ich nickte verständnisvoll und stand auf. „Dann lasse ich euch mal besser alleine. Es war schön, dich noch einmal zu sehen, Timothee!" Der Junge lächelte und winkte mir zum Abschied, als ich das Zimmer verließ.

Draußen im Flur überlegte ich, wie schnell die Zeit vergangen war, seit ich das erste Mal Timothee im Krankenflügel besucht hatte. Es war berührend zu sehen, wie er sich durch die Behandlung erholt hatte, und ich konnte nicht umgehen, dankbar für seine Heilung zu sein. Er wird wieder eine Perspektive haben und die Möglichkeit ein ganz normales Leben zu führen.

Plötzlich flackerten die Bilder der Operationen vor meinem inneren Auge auf, die notwendig waren, um Timothee zu heilen. Die qualvollen Eingriffe und die schlimmen Tage danach, wenn ich mal wieder eine Narkose nicht vertragen hatte, durchzogen meine Gedanken. Stunden verbrachte ich damit, mich zu übergeben.

Ich hatte Timothee eine Perspektive gegeben, aber was war mit meiner? Eine einzelne Träne floss über meine Wange, die ich schnell wegwischte. Aufgewühlt quetschte ich mich durch die Menschenmassen. Ich spürte, wie sich mein Tempo verschnellerte, bis ich wieder im Hauptgebäude war.

Ms. Tung hatte mich noch zu sich rufen lassen, wobei mein Interesse, sie nun zu sehen, genau bei null lag. Vor ihrer Tür machte ich auf mich aufmerksam und sie bat mich herein.

Ich positionierte mich mittig im Raum vor ihrem Schreibtisch und verteilte mein Gewicht gleichmäßig auf beide Beine. Nun hatte ich festen Halt und verschränkte meine Arme hinter dem Rücken, um meine Fassung zu bewahren.

Ms. Tung starrte jedoch nur konzentriert auf irgendwelche Papiere und hob auch nicht mal ihren Blick, als sie anfing zu sprechen: „Du warst heute außergewöhnlich gut bei deinem Kampf im Ring", lobte sie mich.

Ich nickte nur knapp, denn sie war nicht der Typ für Komplimente, weshalb ich vermutete, dass sie eigentlich auf etwas anderes hinauswollte.

„Die Kämpfe waren nicht nur außergewöhnlich gut, sondern auch außergewöhnlich faszinierend - Helena hat es bereits bei ihrem ersten richtigen Gefahrenmoment geschafft, Crour zu aktivieren."

Na, da hätten wir es doch. „Auch mich hat es schockiert, schließlich kommt es selten vor, dass jemand es schafft, ohne intensives Training Cruor zu kontrollieren." Doch bis sie sich selbst heilen konnte, hatte ich es gemieden dem Kampf aufmerksam zu verfolgen - wehrlos und blutverschmiert lag sie auf der Matte.

„Schockiert, ja das sind vielleicht die richtigen Worte, wobei 'kontrollieren' noch lange nicht der Fall sein kann", korrigierte sie mich. Eine kurze Stille legte sich zwischen uns, bevor Ms. Tung weiterfuhr, immer noch mit dem Blick auf den Dokumenten gerichtet.

„Wir hatten ein Paket zu einem unserer Patienten geschickt, der aktuell nicht hier sein kann. Es handelte sich um eine Lieferung mit Crour-Infusionen, die für die Behandlung vor Ort in einem nahegelegenem Krankenhaus bestimmt war."

Es war ungewöhnlich, dass Farmacia Infusionen durch die Welt schickte, weshalb ich davon ausging, dass dieser Patient Farmacia dafür eine ordentliche Summe gezahlt haben musste.

„Diese Lieferung ist jedoch nie angekommen", nun schaute Ms. Tung erstmal von ihren Dokumenten auf und fixierte mich genau durch ihre eckige Brille.

„Nun, da du heute wieder einmal bewiesen hast, dass du kämpfen kannst, habe ich beschlossen, dir diesen Fall zu überlassen, Adriana. 'Wichtig' ist schon ein zu schwaches Wort, um diese Lieferung in Worte zu fassen, weshalb du bereits morgen diese Mission antreten wirst", stellte Ms. Tung klar.

Ich zeigte keine Emotionen und ließ es unkommentiert. Offensichtlich vertraute sie darauf, dass ich nicht nur herausfinden konnte, wo die Ware geblieben war, sondern auch mir als Person innerhalb von Farmacia vertraute. Nur, dass ich heute das zum ersten Mal angezweifelt hatte und ich nicht mehr wusste, ob man mir wirklich noch vertrauen sollte.

„Die Ware sollte nach Japan einreisen und über den Händler Yuki Hiro vermittelt werden. Die Übergabe verlief nach unseren bisherigen Erkenntnissen bis zu Hiro einwandfrei", den Rest musste sie gar nicht erst sagen, denn es war damit deutlich, dass Hiro etwas damit zu tun haben musste.

„Du wirst morgen auf eine Abendveranstaltung gehen und dort diesen Mann treffen. Alles weitere wirst du in dieser Akte finden und den Rest werden wir morgen besprechen", sie tippte einmal mit ihrem Stift, den sie in der Hand hielt, auf einen schwarzen Ordner. Anschließend griff ich ihn und verwand ohne ein weiteres Wort aus ihrem Büro.

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