Helena 19

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Die meiste Zeit verbrachte ich inzwischen am Boxsack. Einerseits, weil meine Mentorin Andriana wenig Interesse daran zeigte, mir etwas beizubringen, und andererseits, weil ich Alex, den Trainer für den Nahkampf, wirklich sympathisch fand.

Das Training half mir, meinen angestauten Frust abzubauen, während ich gegen den Boxsack schlug. Der größte Teil dieser Frustration stammte von den Operationen, die mich oft tagelang ans Bett fesselten und an meinen letzten Nerven zehrten.

Erst in den letzten Woche wurde ich vollständig in das Training der anderen Cruor-Träger eingebunden. Meine Rückstände im Vergleich zu den anderen waren mehr als offensichtlich, und so musste ich mich besonders anstrengen, um mitzuhalten. Alex hatte für mich immer ein extra Auge, wenn ich etwas brauchte, weswegen er auf meiner Sympathieskala ganz oben stand.

Ein besonderes Auge auf mich hatte auch Mr. Garriv, der Leiter von Farmacia. Ich hatte ihn bei den wöchentlichen Wettkämpfen kennengelernt, die als Abschluss des Trainings dienten.

Nun saß ich, noch leicht erschöpft, auf einer der Bänke im Trainingsraum und beobachtete die anderen Cruor-Träger. Ich hatte schnell gelernt, dass es nicht ausreicht, nur gut zu sein, wenn man seinen Gegner besiegen will. Man muss auch dessen Stärken und Schwächen kennen.

Da wir jedoch nie wussten, wem wir am Ende der Woche auf der Matte gegenüberstehen würden, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nach meinem eigenen Training – frisch geduscht und umgezogen – die anderen genau zu beobachten.

Ich versuchte, mir einzuprägen, ob jemand Schwächen in der Deckung zeigte, bestimmte Unsicherheiten hatte oder besonders herausragte.

Gerade fixierte ich Thomes, einen engen Freund von Andriana und den Spender von Samiras Bruder. Mit eleganten Schritten tänzelte er über die Matte und stach mehrmals mit einem Dolch in die Luft, als bekämpfe er einen unsichtbaren Gegner.

Dabei bemerkte ich, wie meine zuvor entspannte Haltung verschwunden war. Thomes stach mit einer Präzision, die mir den Atem raubte und meinen Rücken unwillkürlich versteifen ließ.

Unter meiner bequemen Kleidung – einem roten Pullover und einer weichen grauen Jogginghose – spannten sich meine Muskeln instinktiv zur Abwehr an.

Mein Körper hatte sich stark verändert, seit ich bei Farmacia war. Muskeln und Sehnen traten nun deutlich hervor. Ich hatte stark abgenommen, nicht nur durch das intensive Training, sondern auch durch den Stress und die Operationen, die mich regelmäßig zum Erbrechen brachten und mir jeglichen Appetit nahmen.

Mit dem Essen in der Kantine, auch wenn es nicht übel war, konnte ich mich ebenfalls nicht anfreunden. Ich war nie eine große Esserin gewesen und aß deshalb meistens kaum etwas. Oft saß ich allein in der Kantine, während die anderen Cruor-Träger lieber in die Stadt gingen, um dort ein zu kehren.

Mir war es allerdings nicht erlaubt, Farmacia zu verlassen, da man mir immer noch nicht vollständig vertraute. Doch ich war zufrieden, mich zumindest im größten Teil des Gebäudes frei bewegen zu dürfen.

Die Bibliothek war mein absoluter Lieblingsort. Neben den Büchern, die ich liebte, gab es sogar Computer, mit denen wir ins Internet gehen konnten. Ich nutzte sie liebend gern, um mich über die neuesten Entwicklungen in der Welt zu informieren.

Adriana hatte mich jedoch gewarnt: Jede meiner Suchanfragen konnte von Farmacia nachvollzogen werden, und deshalb sollte ich genau darauf achten, was ich recherchierte.

Obwohl ich mir dessen vollkommen bewusst war, nutzte ich die Gelegenheit trotzdem regelmäßig. Wenn es mir schon nicht erlaubt war, die Farmacia zu verlassen und die Welt direkt zu erleben, dann musste ich sie eben online erkunden – das konnte man mir wirklich nicht vorwerfen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 24 ⏰

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