Kapitel 24 - Ein anderer Blickwinkel

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Sayumi blickte noch immer ein wenig geschockt auf den leeren Platz von Asuka. Ihre Freundin war ein paar Augenblicke zuvor mit Murasakibara in dem Schulgebäude verschwunden, was aber längst nicht das Ungewöhnlichste der letzten fünf Minuten war. Es war das Gesamtpaket. Angefangen bei dem Punkt, wo sich Murasakibara in die Auseinandersetzung von Tagashira und Asuka eingemischt hatte, bis zu dem Punkt, wo er die Weißhaarige mitgenommen hatte. Sayumi wusste beim besten Willen nicht, was sie davon halten oder denken sollte. Murasakibara war im Prinzip ein Arsch, dass er sich also jemals so sehr für jemand anderen als sich selbst einsetzen würde, hätte sie niemals für möglich gehalten. Nun... Das hätte Sayumi zumindest vor den Ferien noch gesagt, hätte man sie gefragt. Die Zeit im Ryokan hatte ihren festgefahrenen Blickwinkel jedoch in vielerlei Hinsicht verändert. Und was den Lilahaarigen anging, so hatte sie ihr hartes Urteil überdacht: Er war kein absoluter Arsch, sondern überaus vielschichtig. Asuka hatte immer behauptet, dass er nicht so einfach gestrickt war, wie man vielleicht im ersten Moment vermuten mochte, doch das hatte sie nie so recht glauben wollen. Im Gasthaus ihrer Freundin hatte sie es jedoch festgestellt; Murasakibara hatte sehr viele verschiedenen Seiten an sich. Und eine davon zeichnete sich durch den Wunsch oder Drang aus, seine Freunde – oder auch nur Asuka – verteidigen zu wollen. Das hatte sie, wenige Momente zuvor, mit eigenen Augen beobachten können.

„Mikami!" Himuro, der nach ihr rief, holte sie wieder aus ihren Gedanken zurück in die Realität. Er erweckte in ihr einen ziemlich angepissten Eindruck, so wie er zielstrebig auf sie zuging. „Was ist los? Klemmt's in der Hose, oder was?", fragte sie ihn wegen seines ungewöhnlichen Auftretens. Damit schaffte sie es doch tatsächlich, ihn einen Moment lang aus der Fassung zu bringen. „Wie kommst du auf diesen Gedanken? Nein, warte... Ich will es gar nicht wissen", sprach der Schwarzhaarige, während er sich kurz die Nasenwurzel massierte. „Hast du Atsushi gesehen? War er hier?" Ah, daher wehte also der Wind. Natürlich war Murasakibara der Grund, weshalb er hier war. Wie hatte sie nur an eine andere Ursache denken können? „Ja, er war bis eben gerade noch hier", erwiderte sie recht gelassen und verschränkte die Arme vor der Brust. Bevor sie noch mehr dazu sagte, wollte sie erstmal beobachten, was das in ihrem Klassenkameraden auslöste. „Ich-bring-ihn-um", betonte er jede Silbe einzeln. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte Sayumi schwören können, an die drei Aderkreuze an Himuros Stirn zu sehen. Die zuckende Augenbraue oder die zur Faust geballte Hand hatte sie sich allerdings nicht eingebildet. Holla, die Waldfee – der war ja richtig geladen!

„Bevor du noch explodierst", Sayumis Stimme nahm einen deutlich sanfteren Ton an, „sollte ich dir sagen, dass er mit seiner Anwesenheit hier etwas wirklich Gutes bewirkt hat. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich ihn in den Schutz nehme, aber... Verzeih es ihm diesmal." Das... Hatte Tatsuya wirklich nicht kommen sehen. Von allen Personen, die er kannte, war Mikami Sayumi stets diejenige gewesen, die am wenigsten Verständnis für Atsushi aufgebracht hatte. Jetzt zu hören, wie sie ihn in Schutz nahm, war – wie sie schon selbst angedeutet hatte – wirklich ungewöhnlich. „Ich würde gerne behaupten, dass mich das nicht neugierig macht, aber das kann ich nicht. Was genau hat er denn getan? Die Törtchen aufgegessen, die kurz vorm Verfall standen?", fragte er, da er sich wirklich nicht vorstellen konnte, was Atsushi in der kurzen Zeitspanne getan haben könnte. Prinzipiell hatte Sayumi kein Problem damit, ihm eine kurze Zusammenfassung der letzten Minuten zu geben – da sie ihn allerdings noch etwas anderes fragen wollte, das nicht unbedingt für fremde Ohren bestimmt war, entschied sie sich, von ihrem Platz aufzustehen und Saotome Ritsuka die Verantwortung bis auf Weiteres zu übertragen. „Lass uns woanders hingehen", meinte sie dann noch, ehe sie ihre Hände in die Taschen ihrer schwarzen Strickjacke steckte und voranging. Etwas zögerlich war ihr Himuro gefolgt. In diesem Augenblick war er heilfroh, dass er mit den Anmeldungen durch war. Die Suche nach Atsushi wurde ein weitaus größeres und länger andauerndes Unterfangen als ursprünglich angenommen.

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