Kapitel 4 - Die Yōsen und ihre Sonderlinge

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Es war fast zwanzig Uhr, als Asuka an diesem Abend in das Wohnheim der Yōsen zurückgekehrt war. In ihrem Haar hingen noch ein paar Schneeflocken von draußen, die beim Eintreten in das hübsche und moderne Gebäude schließlich schmolzen. Auch zeigten ihre Wangen wegen der Kälte eine rötliche Färbung, was durch ihr helles Haar noch stärker auffiel. „Oh, Hanashiro, du kommst aber spät zurück", begrüßte sie Amane Ryusaki, ein Mitschüler aus der Nebenklasse. Mit seiner Bemerkung hatte er nicht unrecht: für gewöhnlich blieb Asuka nur sehr selten so lange draußen. Das hing auch damit zusammen, dass die Yōsen den Schülern, die in dem Wohnheim lebten, nicht gestattete, später als einundzwanzig Uhr heimzukehren. „Wie sieht's aus? Wir sitzen gerade im Gemeinschaftsraum und spielen noch ein bisschen Karten. Möchtest du mitspielen? Ich bin mir sicher, die anderen würden sich freuen, Hanashiro", lud sie Ryusaki ein, ehe er von dem Tee nippte, den er sich augenscheinlich gerade aufgebrüht hatte. „Danke, aber ich muss dieses Mal passen. Beim nächsten Mal aber gerne." Sie winkte dem Jungen noch zu, ehe sie zu den Treppen ging und diese in das erste Stockwerk hinaufstieg. Die Zimmertüren reihten sich links und rechte nur so aneinander, während sie dem langen Flur folgte, um schließlich vor der hölzernen Tür stehenzubleiben, die in ihr Zimmer führte.

„Du bist ganz schön spät", waren die Worte, mit welchen sie bei ihrem Eintreten begrüßt wurde. „Hat dich dein Tantchen wieder etwas gefoltert?" Gefragt wurde sie von der Schülerin, mit welcher sie sich ihr Zimmer teilte: Mikami Sayumi. Würde man Asuka nach ihrer Mitbewohnerin fragen, so würden ihr unzählige Dinge einfallen, die sie über dieses Mädchen erzählen könnte: Zum einen war sie ein bisschen verrückt im Kopf, was vermutlich damit zusammenhing, dass sie einen Intelligenzquotienten besaß, der weit über dem Durchschnitt lag. Ausnahmslos jede Prüfung und jeden Test bestand sie mit Bestnoten. Des Weiteren war sie oftmals zu neugierig für ihr eigenes Wohl und steckte ihre Nase dementsprechend gerne in Angelegenheiten hinein, die sie zumeist nichts angingen. Vor all diesen Dingen war Sayumi jedoch ein Mensch, welchen Asuka sehr schätzte, sehr mochte und der ihr sehr viel bedeutete; Sayumi war ihre beste Freundin. „Sie ist nicht meine Tante, sondern eine Freundin der Familie", erwiderte die weißhaarige Oberschülerin, während sie ihre Tasche abstellte und damit begann, ihre Schuluniform auszuziehen. „Ich habe noch ein wenig mit ihr gequatscht und dabei die Zeit vergessen. Deshalb bin ich so spät." Ihre beste Freundin war die einzige Person, die Asuka jemals in die Situation mit ihrem Nebenjob eingeweiht hatte. Es wäre auch unmöglich gewesen, den Job gegenüber Sayumi zu verheimlichen. Bereits nach ihrem ersten Arbeitstag hatte ihre Freundin damals gefragt, warum sie denn über mehrere Stunden in einem Süßwarengeschäft gewesen sei – sie hatte behauptet, dies an der Intensität des süßen Geruches ausgemacht zu haben, den die Weißhaarige damals umgeben hatte.

Nachdem sie sich umgezogen und ausgiebig gestreckt hatte, trat Asuka an das Stockbett heran, auf dessen oberen Liegefläche ihre Freundin lag. Sie ließ die Beine über die Bettkante baumeln, während sie auf dem Rücken liegend ihren Manga las. „Wie hoch stehen meine Chancen, dass du mich die Hausaufgaben von dir abschreiben lässt?" Kaum hatte sie ihre Frage gestellt, trafen Asukas blaue Augen auf die grünen von Sayumi. Die jüngere Oberschülerin zog ihre Augenbrauen hoch, ehe sie zu einer Antwort ansetzte: „An dieser Stelle halte ich es für ratsam, dich erneut daran zu erinnern, dass du keinen Lerneffekt erlebst, wenn du... Ach, ich kann nicht so geschwollen reden. Sie liegen auf dem Schreibtisch. Aber du musst sie verändern. Und mach in Mathe ein paar Flüchtigkeitsfehler rein, sonst riecht Herr Yasuoka den Braten." Die Größere klatschte ihre Hände aneinander, ehe sie sich verbeugte – wenngleich ihre Freundin das nicht richtig sehen konnte. „Ich danke dir!" Keine Sekunde später hatte sie sich auch schon an den Schreibtisch gesetzt und damit begonnen, die Hausaufgaben für den morgigen Tag abzuschreiben. „Dafür bekomme ich morgen ein Bentō à la Hanashiro Asuka", äußerte Sayumi im Nachhinein noch ihre Forderung, woraufhin die ältere Oberschülerin schmunzelnd einwilligte.

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