Kapitel 28 - Kleine Rückblicke

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Yuzu Kaori saß hinter dem Tresen ihres kleinen Süßwarengeschäfts und vertrieb sich wie so oft mit allerlei Dingen die Zeit. Die Waren in den Regalen waren perfekt vorgezogen, die Verfallsdaten hatte sie kontrolliert, die Abschreibungen waren getätigt und die neuen Bestellungen aufgegeben. Der Besuch der letzten Kunden war fast eine halbe Stunde her und so saß sie nun auf ihren vier Buchstaben und wartete darauf, dass die Zeit verging. Da ihre Nägel bereits gefeilt waren und auch das Sudoku aus der Tageszeitung schon aufgelöst war, hatte sie sich einen alten Schatz zur Hand genommen und blätterte diesen durch: Ein Fotoalbum, welches sie vor vielen, vielen Jahren angefangen hatte und noch immer führte. Die ersten Seiten zeigten den Beginn ihres neuen Lebens, das sie nach der Katastrophe von Kōbe begonnen hatte. Zu jener Zeit war sie eine zwanzig Jahre alte Studentin im zweiten Semester gewesen... Sozialwissenschaften hatte sie studieren wollen, was eigentlich eine totale Schnapsidee war. Gut, dass sie das nach dem Unglück aufgegeben hatte. Was die Katastrophe selbst anging, so konnte sich Kaori noch gut an den Morgen des Erdbebens erinnern. Sie war auf dem Weg zum nächsten Bahnsteig im Bezirk Hyōgo gewesen, von wo aus sie zu ihrer Universität gefahren wäre. Noch auf dem Weg hatte das Unglück allerdings seinen Lauf genommen; das Erzittern des Erdbodens war so stark gewesen, dass sich kaum jemand auf den Beinen hatte halten können. Straßen waren aufgebrochen, Mauern eingestürzt, Scheiben zerborsten. Ein Teil der Häuserfassade, an welcher sie sich abgestützt hatte, war ebenfalls eingestürzt und auf sie gefallen. Ihre Beine waren eingeklemmt gewesen und egal wie sehr sie auch um Hilfe gerufen hatte, in ihrer Angst und Panik waren die Menschen an ihr vorbeigelaufen. Hätte ihr nicht ein gewisser Mann herausgeholfen und sie zu den Sanitätern getragen, so wäre sie womöglich in dem Feuer umgekommen, das sich ungemein schnell ausgebreitet hatte. Das oder weitere Teile der einstürzenden Fassade hätten sie zerquetscht.

Hanashiro Ryōtarō war der Name des Mannes, der sie gerettet hatte. Ein wohlbekannter Name, zumindest aus heutiger Sicht. Kaori fuhr mit ihren Fingern über das erste Bild, das dieses Fotoalbum zierte. Es zeigte sie selbst, Ryō und ein kleines weißhaariges Mädchen, das in dicke Winterkleidung eingepackt worden war. Das Foto hatten sie während der Zugfahrt nach Yamagata geschossen – das war ihr Aufbruch in ein neues Leben gewesen. Zu einem neuen Zuhause. Es war schon eigentümlich, welche Wege das Leben manchmal für einen vorsah. Sie hatte damals den Namen ihres Retters nicht gewusst; sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass sie ihn wiedersehen würde. Wenn sich Kaori recht erinnerte, dann waren die ersten Wochen nach dem Unglück lediglich ein lang anhaltender Albtraum gewesen. Sie hatte ihr Zuhause verloren, ebenso Familienmitglieder. Wegen ihrer Verletzungen hatte sie einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen, doch der Tag ihrer Entlassung war irgendwann gekommen. Orientierungslos, obdachlos und nicht wissend, was sie tun sollte, hatte sie das Klinikum gerade verlassen, da war sie ihrem Retter doch noch einmal über den Weg gelaufen. Wegen seiner Kopfverletzung hatte er zu einer Nachuntersuchung gemusst und so hatte sie das Schicksal ein weiteres Mal zusammengeführt. Damals hatte sie erfahren, dass er durch die Katastrophe ebenfalls Freunde und Familie verloren hatte. Ihr Leid schien dasselbe, doch im Gegensatz zu ihr hatte er so viel stärker gewirkt. Obwohl seine Trauer ohne jeden Zweifel auch sehr groß gewesen war, schien er einen Grund besessen zu haben, um weiterzukämpfen.

Weil sie beide diese Hölle überstanden hatten, es aber niemanden gab, mit dem sie darüber reden konnten, hatten sich Ryōtarō und Kaori ihre Probleme, ihre Sorgen und ihre Trauer gegenseitig anvertraut – obwohl sie einander fremd gewesen waren. So hatte Kaori von Asuka erfahren, dem Kind zweier Freunde von Ryō, die bei dem Unglück gestorben waren. Er hatte ihr von seinem Plan erzählt, sie adoptieren zu wollen und mit ihr gemeinsam wegzuziehen, um ein neues Zuhause aufzubauen und Kōbe zu vergessen. Er wollte der kleinen Asuka ein Zuhause und eine Familie geben; er wollte sie zu seinem neuen Lebensinhalt machen. Obwohl Kaori diesen Mann überhaupt nicht gekannt hatte, obwohl ihr sein Schicksal und das dieses Kindes egal hätten sein können, war das nicht der Fall gewesen. Es hatte sie zutiefst berührt, dass er bereit war, so viel für ein Kind zu tun, das nicht das Seine war. So viel Edelmut war ihr selten, falls überhaupt, untergekommen. Vermutlich war das auch der Grund gewesen, warum sie anschließend gefragt hatte, ob er nicht noch jemanden mitnehmen wollte, der in dieser Stadt keine Zukunft mehr hatte. Eigentlich hatte sich Kaori nur an einem trockenen Witz versuchen wollen, wenngleich sich ein Teil von ihr wirklich danach gesehnt hatte, aus diesem Albtraum gerettet zu werden. Dieser verrückte Hanashiro Ryōtarō hatte ihre Worte jedenfalls ernst genommen und sie wirklich dazu eingeladen, mitzukommen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 15 ⏰

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