Kapitel 12 - In der Heimat

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Seit bald zwei Stunden saßen die drei Oberschüler in dem kleinen Zug der Inaho-Linie, welcher immer weiter südlich durch die Präfektur Akita und schließlich Yamagata fuhr. Begleitet wurden sie dabei von einer wirklich schönen Szenerie, denn die Schienen lagen sehr nah an der Küste des Japanischen Meers, weshalb die drei während der Fahrt fast durchgehend die Möglichkeit hatten, auf dieses hinauszublicken. „Wenn man das so sieht, möchte man glatt einen Urlaub am Strand verbringen. Da kommen Erinnerungen an L.A. hoch", sprach Himuro mit einem Hauch von Wehmut, während er durch das Fenster nach draußen sah. „Ist das Meer weit von deiner Heimat entfernt, Asuka?", fragte er dann noch, was die Oberschülerin schließlich aus ihren Gedanken zurückholte. Sie hatte ein wenig geträumt, da sie sich so unsagbar auf ihre Heimat freute. „Nein, gar nicht. Vielleicht dreißig Minuten mit dem Auto? Ich muss gestehen, ich bin relativ selten ans Wasser gefahren. Der Mogami-Fluss, der durch Shōnai fließt, reicht mir zum Ansehen." Zumal das Ryokan direkt an besagtem Fluss lag und sie diesen sogar von ihrem Zimmer aus sehen konnte. „Das klingt fast so, als würdest du das Meer nicht sonderlich mögen." Zugegeben, die Vorstellung überraschte Tatsuya ein wenig. Das Meer war etwas, von dem er sämtliche Mädchen immer wieder hatte träumen hören. „Ehrlich gesagt: Nein. Tiefe Gewässer machen mir Angst, weshalb ich auch nicht schwimmen kann. Ich mag nicht einmal meinen Kopf unter Wasser halten. Allein bei der Vorstellung stellen sich mir die Nackenhaare auf." Für ihre Phobie hatte es keinen bestimmten Auslöser gegeben. Sie war festgestellt worden, als Ryōtarō sie damals zum Schwimmunterricht hatte bringen wollen, und seither ein Teil, den Asuka in ihrem Leben akzeptiert hatte.

„Du kannst wirklich nicht schwimmen, Shiro-chin?", fragte Murasakibara noch einmal nach. Irgendwie überraschte ihn diese Tatsache ein wenig. Shiro-chin wirkte in seinen Augen wie jemand, der alles umsetzen konnte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Immerhin hatte sie auch ihre Prüfungen bestanden, obwohl sie so schlecht im Rechnen war, dass es beim Zusehen wehtat. „Nein, kann ich nicht." Offenbar kam ihr Ehrgeiz aber wohl nicht gegen Ängste an. „Hat das was mit..." Tatsuya bereute, überhaupt davon angefangen zu haben, weshalb er sich urplötzlich unterbrach. „Mit Kōbe zu tun? Nein, das Erdbeben damals war zwar wirklich sehr stark und das erste, das auf der neu eingeführten Skala eine Stärke von sieben erreicht hat, aber einen Tsunami hat es nicht ausgelöst. Zur Katastrophe wurde das Erbeben aus anderen Gründen. Zum einen stürzten sehr viele Gebäude, Straßen und Brücken wegen der Stärke ein, zum anderen gab es Hunderte von Bränden, die nicht gelöscht werden konnten, weil es an Wasser gemangelt hat." Durch dieses Unglück war von der Stadt nicht mehr als ein Trümmerhaufen zurückgeblieben. Zwar wurde sie wiederaufgebaut, doch laut Kaori war dies nicht mehr das Kōbe, das sie gekannt hatte. Asuka wusste das nicht einzuschätzen; zu schwammig waren ihre Erinnerungen an das alte Kōbe und darüber hinaus war sie seit ihrer Kindheit nie wieder dort gewesen. „Ich verstehe", erwiderte Himuro, dem das dennoch etwas unangenehm war, dieses Thema angeschnitten zu haben. Asuka entging das natürlich nicht, und so wollte sie ihm versichern, dass alles in Ordnung war... Doch bevor sie dazu die Gelegenheit bekam, erfolgte die lang erwartete Durchsage durch die Lautsprecher des Regionalzuges:

„Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen in Kürze die Karikawa-Station in Shōnai. Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung links. Wir bedanken uns, dass Sie mit Japan Railways gefahren sind, und wünschen Ihnen einen angenehmen Tag."

Das war das Signal für die Oberschüler, weshalb sie sich von ihren Sitzplätzen erhoben und ihre Reisetaschen von den Gepäckablagen ergriffen. Auf die anderen Fahrgäste mussten die drei wirklich großen Japaner etwas ungewöhnlich wirken, weshalb ihnen auf dem Weg zu den Türen der ein oder andere Seitenblick zugeworfen wurde. „Sag mal, Shiro-chin", gähnte Atsushi mehr, als dass er wirklich sprach. Unterdessen hielt der Zug an der Station, sodass der Lilahaarige seine Frage beim Aussteigen stellte: „Wie kommen wir eigentlich zu dem Gasthaus?" Ihn hatte vor ein paar Minuten so eine böse Vorahnung beschlichen... Und sie sollte sich bestätigen, als sie auf dem Bahnhofsvorplatz standen und nichts weiter als eine gähnende Leere erblickten. „Wir gehen natürlich. Auf den nächsten Bus zu warten, würde sich überhaupt nicht lohnen. Außerdem... Auf die Weise bekommt ihr gleich noch eine kleine Stadtführung von mir", summte Asuka unbekümmert. Sie warf sich ihre große Tasche über die Schulter, als wäre es nichts, und ging anschließend voran. Atsushi entwich daraufhin ein Seufzen, ehe er ihr schlurfend folgte. „Du bist viel zu fröhlich für sowas, Shiro-chin..." Damit blieb ihm nur noch zu hoffen, dass Shiro-chins Zuhause in der Nähe war. „Da kann man nichts machen..." Tatsuya zuckte kurz mit den Schultern, ehe er seinen Freunden ebenfalls folgte.

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