24 | Gefühlsausbruch

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Ich weiß, ihr seid alle ein bisschen unzufrieden mit der Entwicklung, aber vielleicht sehen die beiden sich ja schneller wieder, als ihr denkt...

Mein Magen rumorte, als ich widerwillig einen Fuß vor den anderen setzte. Seit ich gezwungen war, regelmäßig hierherzukommen, hatte das Gebäude noch nie so beklemmend auf mich gewirkt wie heute. Doch als ich jetzt durch die schmalen Flure in Richtung Seminarraum ging, hatte ich das Gefühl, die Wände würden sich auf mich zu bewegen und mir regelrecht die Luft abschnüren. Am liebsten hätte ich auch heute den Kurs geskippt, aber ich konnte nicht jede Woche vor einer Konfrontation davonlaufen. Den weiteren erlaubten Fehltag wollte ich mir für einen wirklich wichtigen Anlass aufheben und nicht einfach so verschwenden, nur, um Marten aus dem Weg zu gehen. Inzwischen war ich mir sicher, dass mir mein Wunschdenken einen Streich gespielt hatte, als ich vor einer Woche nach der Schicht in der Strandbar im Morgengrauen zur Haltestelle gegangen war und ein Auto gesehen hatte, das seinen ähnlich gewesen war. Gemeldet hatte er sich jedenfalls seitdem nicht bei mir, also hatte ich meine verkehrte Wahrnehmung meiner Müdigkeit zugeordnet. Umso weniger Lust hatte ich, ihm heute hier zu begegnen. Aber vielleicht hatte ich ja auch Glück und er tauchte einfach nicht auf.

Als ich nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt war, hielt ich die Luft an. Das Blut rauschte so laut durch meine Ohren, dass es kurzweilig sogar das leise Stimmgemurmel übertönte. Mein Herz begann zu rasen, als ich den Raum betrat und Marten bereits auf einem der Stühle sitzen sah.

Nach außen ließ ich mir meine Aufregung nicht anmerken, sondern straffte meine Schultern und ging zielstrebig auf einen der freien Stühle zu. Dabei setzte ich ein neutrales Pokerface auf, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr seine Anwesenheit mich aufwühlte. Doch innerlich war ich hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht, Enttäuschung und Wut.

Ich musste nicht zu ihm herübersehen, um zu spüren, dass er mich anschaute. Auch, wenn ich mich fragte, wie er wohl inzwischen über alles dachte, sah ich nicht zu ihm, sondern tippte betont geschäftig auf meinem Smartphone herum. Dabei wäre mir am liebsten gewesen, er hätte mich einfach in den Arm genommen und wir hätten eine Lösung für all das gefunden. Doch nichts dergleichen geschah. Ich steckte das Handy in meine Tasche zurück, strich über den Stoff meines langen Sommerkleides und schlug die Beine übereinander, dann ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Jetzt war er es, der auf dem Display seines Smartphones herumwischte, vermutlich, um sich nicht anmerken zu lassen, dass er innerlich genauso durcheinander war wie ich. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn einen Moment und biss mir auf die Zunge. Ich hasste es, dass er selbst mit unfrisiertem Haar und unrasiertem Bart so anziehend auf mich wirkte. Das helle Shirt brachte seine vielen Tattoos gut zur Geltung, um seinen Hals hing eine glänzende Kette und an seinem Handgelenk funkelte eine protzige Uhr auf.

Während ich versuchte, mir einzureden, wie unattraktiv er eigentlich war und dass er aussah wie ein schmieriger Asi, der regelmäßig auf dem Campingplatz lüstern Frauen hinterher starrte, die halb so alt waren, wie er selbst, sah er plötzlich von seinem Handy auf, geradewegs in meine Augen. Ich versuchte, in seinen zu lesen und ignorierte den heißkalten Schauer, der mir über den Rücken lief. Doch es war, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen uns, die mir den Blick hinter die Fassade versperrte. Der Gesichtsausdruck, mit dem er mich anschaute, war unergründlich und ohne jede Regung. Er straffte lediglich die Schultern, sodass seine Brustmuskulatur sich durch den Stoff des Shirts drückte, und presste sich dabei in die knarzende Stuhllehne. Mein Mund wurde trocken, denn er sah mir noch immer direkt in die Augen und hatte bisher nicht einmal geblinzelt. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn auch, wenn gerade so vieles zwischen uns stand, spürte ich, wie sehr er mir fehlte; nicht nur seine ständigen Sticheleien, mit denen er mich aus der Reserve gelockt hatte, seine jungenhafte Art, wenn wir miteinander herumgealbert hatten, oder seine Zuneigung, sondern auch seine bloße Anwesenheit, mit der er mich oft runtergebracht hatte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich mich daran zurückerinnerte, wie geborgen, sicher und beschützt ich mich in seinem Arm gefühlt hatte, ganz gleich, ob ich in der Lage war, auf mich selbst aufzupassen. Doch er hatte mir diese guten Gefühle genommen, als er einfach so gegangen war. Ich hätte alles dafür gegeben, um zu erfahren, ob er mich vermisste oder uns schon aufgegeben hatte.

Anger Management | Marten | 187Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt