Türchen 27

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'Cause I know I can treat you better than he can
And any girl like you deserves a gentleman
Tell me, why are we wasting time
On all your wasted crying
When you should be with me instead?
I know I can treat you better
Better than he can
— Treat you better • Shawn Mendes —

— Leon —

Ich hatte kein Auge zugetan, was nicht nur daran gelegen hatte, dass Marie immer wieder schlecht geträumt hatte. Gegen Morgen war sie endlich in einen Tiefschlaf gefallen, so dass ich Luisa schrieb, sie möge mein Handy klingeln lassen, wenn sie vor der Tür stand, damit Kim und Marie nicht geweckt würden.
Ich selbst hatte mich vorsichtig von Marie gelöst, mir einen Kaffee gemacht und das Telefon hypnotisiert, damit es endlich vibrierte. Als es sich gegen halb neun bemerkbar machte, hätte ich es fast vor Schreck fallen lassen. Eiligst drückte ich ihr auf und nahm ihr geschäftig den Koffer ab.
„Möchtest du einen Kaffee?"
„Nein, im Moment nicht! Komm her, Brüderchen", Luisa hielt mich am Handgelenk fest und schlang ihre Arme um mich, „Ist okay, Leo..."
Leo.
Luisa war die einzige, die mich seit Kindheitstagen so nannte.
Ich schluckte.
Und ließ es okay sein. 

„Ist es in Ordnung, wenn ich zur Säbener fahre? Ich muss die Physio machen und alles andere...besprechen", wich ich schließlich schniefend aus. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das ganze deichseln sollte ohne allzu sehr auf mein Privatleben eingehen zu müssen. Marie hatte so lange geschwiegen; es war ihr sicherlich nicht recht, wenn das allzu große Kreise ziehen würde.
Meine Schwester nickte verständnisvoll und ich verabschiedete mich mit den Worten, dass ich mich beeilen und bald wieder da sein würde. Vielleicht ohne Job, wenn TT mich raus schmiss, aber es war Zeit, die richtigen Prioritäten zu setzen.
Für meine Familie.

Mein Physio zog nur eine Augenbraue hoch, als ich in den Behandlungsraum kam. Total übermüdet, mit Augenringen und in den gleichen Klamotten von gestern. In einvernehmlichen Schweigen bearbeiteten wir meine Hand und mir wurde die Schiene wieder angelegt.
„Hey, Leon, wenn du reden willst, dann..."
Dankbar drückte ich seine Schulter und nickte nur, bevor ich raus und in Richtung Umkleide ging. Schon von weitem hörte ich gut gelaunte Männerstimmen. Mir tat es schon jetzt Leid, dass ich die Stimmung crashen musste, aber ich wollte zuerst mit ihnen reden. Was ich mir dadurch erhoffte, wusste ich nicht.
Vielleicht Verständnis.
Hoffentlich Rückhalt.

„Leon? Wie sieht du denn aus?", entfuhr es Bambi über das Geschnatter hinweg, als er ich in der Tür stehen sah; augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill, „Was ist passiert? Ist was mit Kim?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Marie...Kim hat mir erzählt, dass was nicht stimmt", schlussfolgerte er richtig, „Was ist los?"
Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen, meine Freundin getröstet und immer wieder dieses Bild aus ihrem Tagebuch  im Kopf gehabt. Der Abend, an dem sie die Vergewaltigung über sich hatte ergehen lassen, weil sie solche Angst gehabt hatte, mit all dem allein zu sein.

Das war der Augenblick, als bei mir komplett Schluss war. Heulend sackte ich auf die Bank, während Jo und Thomas links und rechts von mir saßen, meine Schulter drückten und darauf warteten, dass ich wieder ein Wort von mir geben konnte.
„Marie war vor mir mit einem Mann zusammen. Sie lernte ihn kennen, einige Wochen bevor sie 18 wurde und ihre Eltern starben."
„Und nun? Ist der Typ wieder aufgetaucht", Upa seufzte, „Will er noch was von ihr?"
„Nein, ist er nicht...", leider nicht; er käme mir jetzt grade sehr gelegen, „Er...er hat...", meine gesunde Hand verkrampfte sich, „...sie vergewaltigt..."
In der Umkleide war es totenstill.

„Daher ihre Albträume. Sie durchlebt es immer und immer wieder; letzte Nacht wieder. Da war es so schlimm, dass sie mir endlich gesagt hat, was los ist."
„Was können wir tun?", Matthijs de Ligt knackte unbewusst mit den Knöcheln seiner Faust, „Wissen wir, wer der Kerl ist?"
„Nicht namentlich, aber...", ich schluckte, „Er war einer von uns. Sie hat ihn hier beim öffentlichen Training kennengelernt. Das Schwein hat einfach seine Triebe an ihr befriedigt!"
Verzweifelt fuhr ich mir mit der Hand durchs Gesicht, bevor ich in die Runde sah.
Schock.
Unglaube.
Und dennoch war es die Wahrheit.
Einer unserer ehemaligen Teamkameraden, jemand, dem wir vertraut hatten, war ein Vergewaltiger.

„Leon, geh nach hause. Sei für Marie da und vergiss das hier", sacht drückte Thomas Müller meine Schulter.
„Ich will euch nicht im Stich lassen, wirklich nicht, aber..."
„Es gibt Momente im Leben, da geht Familie vor", Jo, der hier wahrscheinlich mit mir der Ehrgeizigste war, schlug sich voll auf dessen Seite, „Wir kommen klar. Und wir sprechen auch mit Tuchel."
„Den überlass mal mir", Bambi versuchte sich an einem Grinsen, „Wenn TT mir blöd kommt, dann..."
„Was dann?"

Ohne anzuklopfen oder sich weiter bemerkbar zu machen, stand unser Trainer in der Umkleide. Na super; jetzt schaukelte sich das ganze direkt hoch.
Aber nicht nur Tuchel stattete uns einen Besuch ab, sondern auch Uli Hoeneß spazierte hinein. Augenblicklich legte sich die Stirn unseres Ehrenpräsidenten in Falten.
„Was ist hier los?", fragte Tuchel nun drängender; seine Augen klebten auf mir und identifizierten mich als den Unruhestifter.
„Leon braucht ein paar Tage Pause", verkündetet Bambi so entschieden, wie er es auch das letzte Mal getan hatte, „Wir haben ihm gesagt, dass das kein Problem ist."
„So so macht ihr Spieler hier nun meinen Job; wofür braucht ihr mich dann noch?", knirschte unser Trainer hervor; tja, die Frage stellten sich hier wohl nicht nur wir, „So funktioniert das hier nicht, Musiala! Ihr könnt nicht..."
„Leon geht und damit basta! Er hilft uns nicht, wenn er nicht mit dem Kopf hier ist", Thomas Müller hatte sich erhoben und musterte unseren Trainer in aller Seelenruhe. Wenn es hier jemanden, noch vor Jamal gab, der unantastbar war, dann war er es. Erst recht vor Uli Hoeneß.
Der andere Thomas wollte grade etwas darauf erwidern, als sich unser Ehrenpräsident räusperte.
„Genug! Ihr geht jetzt trainieren; Leon kommt mit mir", Hoeneß Stimme duldete keine Widerrede. Bambi gab mir noch mit auf dem Weg, dass er sich später bei Kim melden würde, bevor ich hinter Uli her trottete.
Er hatte hier immer noch ein Büro, wo er mir den Platz vor seinem Schreibtisch anbot. Am liebsten wäre ich gegangen, aber ich blieb, weil ich keine Wahl hatte.

Eine halbe Stunde später verließ ich erleichtert das Büro unseres Ehrenpräsidenten. Auf dem Weg nach Hause besorgte ich noch ein paar Brötchen. Vor der Haustür atmete ich noch einmal tief durch - irgendwie wurde das zu einer Angewohnheit - und schloss auf. Drei Frauenstimmen schnatterten mir aus der Küche entgegen. Es schien um Luisa's Arbeit zu gehen; meine Schwester war freiberufliche Grafikdesignerin  und erzählte offenbar von ihren neusten Projekten.
„Schatz?", Marie runzelte irritiert die Stirn, als ich in die Küche geschneit kam, „Was machst du hier?"
„Ich bringe Brötchen", zur Bestätigung hielt ich eine große Tüte in die Luft.
„Ist da zufälligerweise auch ein Käsebrötchen drin?", fragte Kim interessiert.
„Vielleicht...", ich hatte das Wort noch nicht mal zu Ende gesprochen, da da war die Tüte auch schon weg.
„Musst du nicht arbeiten?", griff Marie das Thema wieder auf, „Und deine Physio?"
„Ich hab frei; meine Physio muss ich allerdings machen."
Wir hatten nicht über einen Zeitraum gesprochen. Uli hatte mir versichert, dass ich mich nicht sorgen und ganz auf meine Familie konzentrieren sollte. Es dauerte einfach, so lange wie es dauerte.
„Nein, ich will nicht, dass du deine Karriere wegen mir aufs Spiel setzt und dein Team hängen lässt. Mir gehts gut...", beteuerte sie, woraufhin ich eine Augenbraue hochzog, „...besser, seitdem du es weißt."
„Die Jungs...verstehen es...bitte verzeih, ich musste was sagen", stolperte ich fast über meine Worte, aber Marie drückte meine Hand und schüttelte sanft den Kopf, „Tuchel wird nur erfahren, dass ich aus privaten Gründen beurlaubt bin. Von Uli Hoeneß persönlich. Er...er hat uns außerdem angeboten, dass wir jederzeit alle Angebote nutzen können, die der Verein zu bieten hat..."

Das war gut drumherum geredet, weil ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Wir musste noch über so einige Dinge reden, aber ich fand nicht, dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt dafür war.
Sie schien sich gerade wieder ein wenig beruhigt zu haben und ich wollte sie nicht direkt wieder aufregen. Vielleicht konnte ich mich vorher auch noch mit Luisa besprechen. Marie schien ihr uneingeschränkt zu vertrauen und möglicherweise war es so leichter sie zu gewissen Dingen bewegen zu können.
„Das ist wirklich sehr nett von ihm", meine Freundin nickte, dann zog sie mich näher an sich, „Wenn es das ist, wovon ich denke, dass du sprichst, dann...dann wäre ich wirklich sehr dankbar, wenn das gehen würde..."
Die Brünette lächelte leicht und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wollte für sie da sein und ihr helfen.
Aber ich war auch kein Therapeut.
Ich war nur ein Mann, dessen Frau mutwillig verletzte worden war und der Angst hatte, dass sie schlussendlich doch noch daran zerbrechen würde...

Behind These Hazel Eyes [A Leon Goretzka Advent calendar-FF 2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt