4/Ausnahmezustand

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Hendrik

Schon als David und ich kurz darauf in Papas altem Opel sitzen, weiß ich, dass dieser Abend feuchtfröhlich werden wird. Zumindest für mich. Ich brauche unbedingt ein Ventil, sonst platze ich bald. Ich liebe dieses Auto hier über alles und früher war es das gemeinsame Baby von Papa und mir. Ich habe mich schon im Kindergartenalter von seinen Schwärmereien für alte Autos anstecken lassen und kurz darauf besorgte er diese Karre. Wir haben stundenlang an ihr rumgeschraubt und somit ist es verständlich, dass ich alles, was ich über Autos weiß, von meinem Vater habe.

Umso trauriger, dass diese Gemeinsamkeit von heute auf morgen endete. So wie die Liebe, die Papa mir schenkte. Sie war plötzlich einfach weg und ich verstehe bis heute nicht, wie sowas funktioniert...

Ich dagegen liebe meinen Papa wie verrückt, ganz egal wie eiskalt er mir gegenüber ist. Ich wünsche mir so sehr eine Umarmung von ihm, dass es mir schon weh tut, wenn ich nur daran denke.

Ich grinse wie bescheuert in Davids Richtung, um ihm zu signalisieren, dass alles okay ist, dann drücke ich die Kupplung bis zum Anschlag und gebe anschließend Gas. Mein bester Freund ist heute im Ausnahmezustand und trotzdem wirkte er ziemlich besorgt, als ich ihm in Kurzversion erzählte, dass Caroline noch auf Mallorca ist und ich meine Zelte dort abgebrochen habe.

Um ihm für den Moment auszuweichen, schlug ich vor, dass wir in unsere Stammkneipe, die wir als Teenager beinahe jedes Wochenende aufgesucht haben, fahren, worauf er sofort ansprang. Diese Flucht von der Beerdigung ist sicherlich nicht der beste Weg, aber im Moment der einfachste.

Noch immer plagen mich die Schuldgefühle David gegenüber. Wir sind beide erwachsen und trotzdem war unsere Freundschaft schon immer etwas ganz besonderes. Mit ihm habe ich so viel...Müll durchgestanden und andersrum genauso. Vielleicht verstehen wir uns auch so gut, weil wir beide eine ziemlich schwierige Kindheit hatten und uns daraufhin schworen, immer füreinander da zu sein, egal was noch kommt.

In der Kneipe angekommen, lasse ich mir zu aller erst eine eiskalte Flasche Bier kommen. Die leise Stimme, die mir zuflüstert, dass das nicht die richtige Lösung ist und ich es besser sein lassen sollte, ignoriere ich dabei gekonnt. Mein Blick gleitet durch die Bar, die fast noch so aussieht, wie vor etwas mehr als zehn Jahren. Nur die Barhocker scheinen neu, zumindest das schwarze Leder, auf das ich mich setze und welches ziemlich gemütlich ist. Gedankenversunken klaube ich mir ein Handvoll der Erdnüsse, die in einer kleinen Schale auf dem Tresen stehen und schiebe sie mir in den Mund.

David mustert mich besorgt, was ich aus den Augenwinkeln wahrnehmen kann.

Er ist mir scheinbar nicht böse, dass ich mich solange rar gemacht habe.

„Magst du reden?", fragt er mich, während ich das Etikett der Bierflasche bearbeite. Durch die bedingte Nässe des Kalt-Warm Verhältnisses, lässt es sich komplett abziehen, ehe ich es wieder draufdrücke.

Mir entwischt nur ein seltsames Brummen. Ich habe doch selbst keine Ahnung, was ich im Moment fühlen soll. Mein Leben auf Mallorca war ein Traum. Ich war dort glücklich, hatte mein Mädchen, das ich vom ersten Tag, als sie vor neun Jahren in mein Leben getreten ist, geliebt habe, wie keine andere. Caroline war,... ist die Liebe meines Lebens und das wusste ich gleich, als mein Herz, das bis dahin ziemlich... kaputt war, plötzlich schlug, als gäbe es kein Morgen mehr. Und auch jetzt, als ich an sie denke, hämmert es provokant gegen meine Brust, obwohl es seit zwei Tagen nur noch ein einziger Haufen aus Bruchstücken ist. So fühlt es sich zumindest an.

Der Nachmittag ging ziemlich schnell vorbei. Es gab so viel, über das David und ich gesprochen haben. Es tat gut, dass mein bester Freund an meiner Seite war. Mehrere Male klingelte sein Handy, aber er beachtete es gar nicht. Vorwürfe deswegen habe ich ihm aber keine gemacht. Er hat Marina und die Jungs  und es war mit Sicherheit falsch, sie komplett zu ignorieren, vor allem nachdem was alles passiert ist. Aber ich wusste, dass David diesen Abend mit mir und damit die Zeit für... sich genauso dringend brauchte, wie ich. Eine Weile haben wir nur stillschweigend nebeneinander gesessen und Erdnüsse gefuttert.

Jetzt versucht David mich in die Karre meines Vaters zu befördern, was nicht wirklich gelingen mag, weil ich schwanke wie ein Schiff, das gerade durch einen tosenden Sturm fährt.

„Ich mag nicht nach Hause zu meinen Eltern", jammere ich, als ich endlich im Auto sitze und David losfahren will. „Bitte bring mich nicht dorthin. Kann ich die Nacht nicht bei dir pennen?"

Ich lasse mich in den Sitz sinken, was es aber sofort schlimmer macht. Alles dreht sich und mir wird speiübel.

„Stopp!", keuche ich, obwohl David noch nicht einmal losgefahren ist. Ich reiße die Autotür auf und drehe mich schnell zur Seite, um einen Teil des Alkohols loszuwerden.

„Bitte David", wispere ich schließlich erneut. Meine Augen fallen zu, was alles für einen kurzen Moment erträglicher macht. Die Wirkung des Alkohols lässt schon nach und der Schmerz in meinem Herzen kehrt mit einer Intensität zurück, die mich nach Luft schnappen lässt. „Ich verspreche auch, dass ich nicht auf euren Teppichboden kotze."

In Your Eyes (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt