16/Wie früher?

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Hendrik

Schon das dritte Mal heute Morgen schwebt mein Zeigefinger nur Millimeter von dem grünen Hörer entfernt, ehe ich ihn wieder zurückziehe. David ist immer für mich da und ich bin echt froh, dass die Jahre, die ich auf Mallorca verschwendet habe, daran keinen Abbruch getan haben. Trotzdem kann ich jetzt nicht schon wieder bei ihm angekrochen kommen. Sein Leben unterscheidet sich so dermaßen von meinem, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich jetzt schon wieder...störe.

Es ist Dienstag und mit Sicherheit sitzt er hinter dem Schreibtisch und arbeitet. Marina wird zuhause sein und sich um den Haushalt kümmern und die beiden Kids sind im Kindergarten, bzw. in der Schule.

All das habe ich mir auch immer gewünscht. Eine Frau und Kinder, die mir abends in die Arme rennen, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme.

„Hier ist Besuch für Sie", sagt die neue Haushaltshilfe und blickt durch ihre Brillengläser missmutig in meinem Chaos herum. „Ihre Mutter besteht darauf, dass ich hier oben nichts zu tun habe, außer Ihnen Bescheid zu geben, wenn Besuch kommt oder es Essen gibt. Ich sehe das anders, aber ich tue, was von mir verlangt wird."

Ich versuche ihre Worte einfach zu ignorieren, nicke ihr aber zu, um ihr zu signalisieren, dass sie gehen kann. Es tut weh, dass Marianna einfach so ersetzt worden ist und dann auch noch gegen ein solches...Biest. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Papa sie rausgeschmissen hat. Auf der anderen Seite bin ich gerade sehr froh, dass sie nicht hier ist. Obwohl ich dringend Antworten auf die Fragen in meinem Kopf wünsche, blockiert mich etwas. Im Moment könnte ich nicht vor Marianna stehen, ohne in Tränen auszubrechen oder sie zu verurteilen. Wahrscheinlich ist es das Beste, dass sie gerade nicht hier ist.

„Hendrik?", vernehme ich Davids leises Wispern.

Was für ein Zufall, dass er hier ist, wo ich doch auch versucht war, mich bei ihm zu melden.

„Was ist los, David?" Alle Alarmglocken in meinem Kopf gehen an, als mein bester Freund mit aschfahler Farbe im Gesicht und rot geränderten Augen in mein Blickfeld tritt.

Er erwidert kein einziges Wort, sondern verharrt sekundenlang in der selben Position. Erst, als ich ihn in eine Umarmung ziehe, löst sich seine Starre und er verwandelt sich in einen Springbrunnen.

Fuck! Was ist hier los?

Mein Innerstes verzieht sich krampfhaft und am liebsten würde ich mit ihm mit flennen. Alles ist so unwirklich und mein Leben eine einzige Katastrophe. Warum muss es David genauso gehen? Reicht es nicht, dass unsere Kindheit eine gefühlte Achterbahnfahrt von ganz oben, bis beinahe ganz nach unten und das im ständigen Wechsel war? Aber es scheint, dass es nur schlimmer wird, wenn man erwachsen ist. Plötzlich liegt da ein enormer Druck auf deinen Schultern und es ist nicht mehr so leicht, ihn wieder loszuwerden. Ein ständiger Kampf, ja genau das ist es, was David und mich aneinandergeschweißt hat. Aber sollte da nicht mehr sein? Wann waren wir das letzte Mal so richtig losgelöst und frei, wenn wir zusammen waren? Ich vermisse es schmerzlich, so wie vieles anderes auch.

„David?", versuche ich zu ihm durchzudringen. Meine Hand fährt über seinen Rücken, während ich krampfhaft versuche nicht selbst zu weinen. Einer von uns muss stark bleiben. „Was ist los? Rede mit mir, Alter. Ich weiß, dass es gerade schwer ist..."

„Marina ist ausgezogen", würgt er hervor. „Meine Jungs hat sie mitgenommen...Und das alles, weil ich mit Vanessa gevögelt habe und ihr.. ihr vielleicht ein Kind gemacht habe."

„Du hast was?"

„Ich weiß nicht, ob es stimmt... Erinnerst du dich an die WhatsApp neulich. Dieses Foto in Papas Schreibtisch, wo wir immer wissen wollten, was er darin aufbewahrt? Ich habe Marina noch am selben Abend darüber erzählt, ihr Vater war auch da und zuerst war sie gar nicht mal so geschockt, bis ich gestern bei einem Gespräch erzählt habe, dass Vanessa die Mutter ist...Ich wusste, dass sie noch nicht darüber hinweg ist, dass ich sie betrogen habe... Und vom Zeitraum passt es, Hendrik. Was ist, wenn ich wirklich ihr Vater bin? Das pack ich einfach nicht...Nicht ohne Marina."

„Kann ich dir irgendwie helfen?", frage ich überfordert, beinahe schon hilflos.

„Ich musste mich einfach nur mal ausquatschen", antwortet  er schniefend und lenkt dann schnell vom Thema ab. „Gibt es bei dir schon was Neues? Es tut mir echt leid, dass ich nicht gleich gefragt habe. Ich heule da wegen meinem Mist rum, dabei geht es dir ja auch nicht besser."

„Marianna ist meine leibliche Mutter... Kannst du dir das vorstellen? Sie war fast meine ganze Kindheit bei mir, dabei hat sie mich damals weggegeben. Ich verstehe es nicht und jetzt ist sie weg, weil Papa sie aus dem Haus verwiesen hat. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Hättest du einen Schlafplatz für mich? Im Moment will ich nur hier raus."

„Ich denke, dass lässt sich einrichten. Wir beide gegen den Rest der Welt, so wie früher?"

„Wie früher", murmele ich eine Antwort.

Mein Herz stimmt mir nur halbherzig zu. Irgendwie hat sich so vieles verändert, erschreckenderweise gehören auch David und ich dazu. Vielleicht sind es auch nur die dunklen Gedanken, die längst Besitz von mir ergriffen haben, aber ich fühle mich im Moment wie Davids Ersatzgeige, die erst zum Einsatz kommt, wenn alle anderen ihn verlassen haben.


In Your Eyes (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt