3/Moralpredigt

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Hendrik

Das Gespräch mit Papa, das schon gestern hätte stattfinden sollen, habe ich sausen lassen. Sicher war es feige von mir, aber auf seine Moralpredigt kann ich im Moment ehrlich verzichten. Das Frühstück habe ich mir in das Dachgeschoss kommen lassen. Die erste Nacht hier habe ich nicht viel geschlafen, weil mich zu viele Gedanken, die sich hauptsächlich um Caroline drehten, wach hielten. Jetzt stochere ich lustlos in dem Rührei mit Tomaten herum, neben dem etwas Toastbrot liegt. Schon das zehnte Mal heute Morgen schaue ich auf mein Handy und warte auf eine neue WhatsApp von David, die aber nicht kommt. Ich weiß, dass er zurzeit mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat. Es war schon schmerzhaft genug seine gestrigen WhatsApp anzuhören, in denen er mir von seinem Krankenhausaufenthalt und der Woche Koma, in der er lag, erzählte. Wenn ich nur daran denke, dass David um sein Leben gekämpft hat, wird es mir ganz anders.

Und ich war nicht da!

Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen und verhindern, dass ich Papas Angebot nach Mallorca zu ziehen, weil er Caroline und mir dort eine Finka gekauft hat, überhaupt annehme. Damit hätte ich mir so viel Herzschmerz und das schlechte Gewissen gegenüber David ersparen können.

„Heute ist die Beerdigung von Tobias Hildt. Sicher ist der Junge dort", dringt Papas laute Stimme an meine Ohren.

Sie streiten schon wieder!

Wenn es etwas gibt, das meine Eltern gut können, dann ist es sich zu streiten. Ich dachte immer, dass sie das tun, weil sie sich lieben, aber darin habe ich mich immer geirrt. Sie haben sich immer dann die Köpfe eingeschlagen, wenn es entweder um die Arbeit ging oder um... mich.

Und heute ist es glasklar, dass es um mich geht.

Wie gerne würde ich mich wie früher in mein Zimmer verschanzen, die Zeigefinger in die Ohrmuscheln drücken und lauthals vor mich hin summen, während ich mit dem Oberkörper vor und zurück wippe. Aber alleine die Tatsache, dass heute die Beisetzung von Tobias ist, lässt mich aufhorchen. Kein Wunder, dass David noch nicht auf meine letzte Nachricht geantwortet hat. 

Er geht davon aus, dass ich auf Mallorca bin und sowieso nicht kommen kann. Irgendwie habe ich etwas Schiss vor dem baldigen Zusammentreffen mit meinem besten Kumpel. Es ist so viel Zeit vergangen...

„Er hat sich gestern wieder vor dem Gespräch mit mir gedrückt... Ich habe es so satt ihn ständig darum bitten zu müssen. Heute wird der Junge mit mir reden, ob er es will oder nicht."

„Kannst du ihn nicht zumindest heute in Ruhe lassen?", mischt sich Mama in den Streit, der bisher nur von meinem Vater ausgegangen ist, ein. „Irgendetwas muss doch auf Mallorca mit Caroline vorgefallen sein, sonst wäre Hendrik doch jetzt nicht hier.."

„Du verteidigst den Jungen immer. Dabei vergisst du, dass er..."

In nur einer Millisekunde habe ich eine Entscheidung getroffen, mein Handy in die Hosentasche geschoben und bin dann ins Esszimmer gestürmt, in dem meine Eltern sich aufhalten. Zwei Augenpaare liegen überrascht auf mir, als ich mir ein Wasser aus dem Kühlschrank nehme und mich dann seelenruhig auf den freien Stuhl neben Mama plumpsen lasse.

„Du wolltest reden, Papa." Wütend funkele ich ihn an, was sein hochrotes Gesicht noch eine Nuance dunkler werden lässt, wenn das überhaupt möglich ist.

„Ich will, dass du noch heute zurück nach Mallorca fliegst", presst er hervor, wobei sich seine Augen zu kleinen Schlitzen formen und etwas bedrohliches in ihnen aufblitzt.

„Und wenn ich das nicht mache, was passiert dann, Papa?"

„Dann werde ich dafür sorgen, dass du keinen Penny mehr von mir bekommst. Haben wir uns verstanden, Junge?"

Ich bin versucht ihm den Stinkefinger zu zeigen, lasse es aber lieber sein, weil ich ihn nicht noch mehr provozieren möchte. Außerdem ist da etwas weiches und warmes in Mamas Blick und obwohl sie nichts sagt, weiß ich, dass ich ihr nicht egal bin und sie die ganze Situation sehr verletzt.

„Wo willst du jetzt hin?", höre ich Papas mahnende Stimme hinter mir, nachdem ich meine Eltern einfach in der Küche zurücklasse und mich auf den Weg zur Haustüre mache. Wie ein Walross schnauft mein Vater, als er mir folgt. Dick ist er von Natur aus zwar nicht, aber die Arbeit in einer Brauerei hat seine Spuren an ihm hinterlassen. Sein Bierbauch sieht aus, als sei er im fünftem Monat schwanger. Dazu kommt noch der Fakt, dass mein Vater sich nur wenig bewegt und sich die meiste Zeit in seinem extravagant eingerichtetem Arbeitszimmer einschließt.


„Auf die Beerdigung, auf der du mich sowieso vermutet hattest."

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Ich lungere seit mehr als einer Stunde etwas entfernt von der Kirche, im Schutz einer alten Scheune rum, in der wahrscheinlich der Gottesdienst zu Tobias' Trauerfeier stattfinden wird. Vor ein paar Minuten ist der alte Opel von Marina und David vorgefahren und nur kurz darauf stolperte mein bester Freund von der Beifahrerseite auf den Asphalt, dicht gefolgt von Jannes, der so groß geworden ist, das ich wieder einen Stich in meinem Herzen spüre, weil ich so lange nicht hier gewesen bin. Das letzte Mal als ich ihn gesehen hatte, war er noch ein Säugling, der friedlich in einer Wiege schlummerte. Ein weiterer kleiner Junge taucht in meinem Sichtfeld auf, der sich dann gleich an Jannes' rechte Hand klammert. Das braune, lockige Haar ist unverkennbar Marinas, die jetzt auch hinter diesem auftaucht und dann ihre Hand sanft auf Davids Schultern legt.

David sieht fürchterlich aus..

„Ich will Papas Hand auch halten", dringen Wortfetzen in mein Versteck. „Du kannst an Mamas, Elias. Bitte..."

Wieso schaffe ich es nicht einfach zu der kleinen Familie zu laufen? Sollte ich nicht an Davids Seite sein? Wie oft war ich bei Tobias und ihm, als wir noch kleine Kinder waren? Er war mir mehr ein Vater, als es mein eigener je getan hat. Sollte ich ihm da nicht die letzte Ehre erweisen? Zu blöd, dass meine Beine nicht...wollen. Wie verwurzelt stehe ich in meinem Versteck und schrecke auf, als Marinas Blick für eine Sekunde in meine Richtung wandert.

Aber sie scheint mich nicht zu gesehen haben, weil die Familie sich jetzt in Bewegung setzt. David wird dabei von seinen Liebsten gestützt.

Ich blicke schuldbewusst an mir hinunter. In meiner Eile habe ich mich nicht einmal umgezogen. Unmöglich kann ich in meinem blauen Pullover und der hellbeigen Jeans auf der Beerdigung auftauchen.

Am besten warte ich ab, bis das ganze vorbei ist. Vielleicht sollte ich auch erst morgen bei David und Marina vorbeischauen. Ziemlich lange grübele ich vor mich hin, ehe mich doch der Mut fasst und ich mit zittrigen Beinen auf den Friedhof laufe, der direkt an die Kirche angrenzt.

Mein bester Freund ist von einer Menschentraube umgeben. Wahrscheinlich alles Familie oder Bekannte von Tobias und wie in so einer Situation üblich, schütteln sie respektvoll Davids Hand und sprechen ihm sein Mitleid aus. Ich weiß, dass mein bester Freund das überhaupt nicht abkann und vor allem nicht heute, so räuspere ich mich kurz, ehe ich rufe:

„Wie geht's dir, Alter?"

In Your Eyes (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt