Tabea
Hendrik entflieht panisch dem innigen Moment zwischen uns. Es ist glasklar, dass auch er etwas für mich empfindet. Sein Körper hat ihn verraten und am liebsten würde ich die ganze Nacht in seinen Armen liegen und nur seinem Herzschlag lauschen.
Noch immer in einer Starre gefangen, höre ich wie er die Haustür hinter sich zu pfeffert und dann ist es ungewöhnlich still.
Normalerweise ist die Stille meine beste Freundin.
Es war immer gut, wenn es zuhause ruhig war, dann hat Papa meistens geschlafen oder war nicht da und wir hatten unsere Ruhe. Für ein paar Stunden waren wir sogar glücklich und richtig sorglos, ehe sein besoffenes Ich wieder alles änderte.
Vor allem Lea hatte es nie leicht. Mit ihren feuerroten Haaren und den smaragdgrünen Augen, sah sie schon als kleines Mädchen wie unsere Mutter aus...
„Hendrik", schreie ich viel zu spät und hechte mit großen Schritten durch den Flur, ehe ich an der Haustür angelangt bin. Zum Glück ist er noch nicht weit gekommen und kauert auf der untersten Stufe der Steintreppe. Vorsichtig lasse ich mich neben ihn sinken und starre in den wolkenverhangenen Himmel, ehe ich meine Hand um seine Schulter schlinge, was er nur mit einem tiefen Ausatmen quittiert.
„Tabea", sagt er leise, aber mehr kommt nicht. Das Unausgesprochene liegt wie ein unsichtbarer Nebel über uns. Ich hoffe so sehr auf mehr, will aber gleichzeitig diesen Moment ausnutzen, weil er womöglich alles ist, was ich noch von dem Mann neben mir, bekommen werde. Diese zarten Gefühle, die sich in uns aufbauen, scheinen keine Chance zu haben. Mein Herz schreit Hendriks Namen, aber mein Kopf sagt mir, dass es vorbei ist, wo es noch nicht einmal richtig bekommen hat.
Beinahe zwanzig Jahre, wurde mir die Liebe als etwas Schlechtes verkauft. Papa zeigte uns Kindern so viele Gründe, warum wir sie nie in unser Leben lassen sollten. Liebe tut weh, Liebe zerstört Familien, Liebe macht krank, Liebe ist Kontrolle, Liebe ist Gewalt, ja Liebe ist das einzige, das uns ganz macht, aber gleichzeitig zu endlosem Schmerz führt und uns bricht. Ein einziger Teufelskreis...
„Was wirst du jetzt machen, Hendrik?", frage ich und überspiele meine wahren Gefühle. Zittrige Beine, kraftlose Glieder, Schweißperlen im Gesicht und Panik in der Stimme... All das habe ich im Laufe der Jahre abtrainiert. Je weniger Angst in meinem Gesicht, desto uninteressanter wurde ich für Papa. Anfangs pinkelte ich mich oft ein, wofür ich immer ausgelacht und gestraft wurde. Oft musste ich stundenlang in meinem eigenen Urin ausharren...
„Ich will nicht nach Hause", höre ich sein leises Wispern nahe an meinem Ohr. „Tabea, ich will doch nur... Kannst du mich halten?"
Das Beben in meiner Brust lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen und ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Bestimmt werde ich gleich ohnmächtig, aber davor will ich mir noch einen letzten Kuss von Hendrik stehlen. Mit Sicherheit ist alles hier nur ein dämlicher Traum, der sich sehr, sehr real anfühlt.
Wie von alleine schlingen sich meine Arme um Hendriks Oberkörper. Fremdgesteuert lege ich meine linke Hand auf seine von Bartstoppeln überzogene Wange. Eine einzelne seiner Tränen kullert darüber und verschwindet unter meiner Handinnenfläche.
Ich würde alles dafür geben, ihn heute Nacht an meiner Seite zu haben.
Obwohl alles in mir das Gegenteil schreit.
Ich hätte nie gedacht, dass Papa mich noch immer in seiner Hand hat. Längst bin ich erwachsen und trotzdem höre ich noch immer seine lallenden Worte. Eigentlich sollte er keine Kontrolle mehr über mich haben. Schließlich war ich jahrelang in einer Beziehung, wollte sogar heiraten. Ich war glücklich...
Zumindest dachte ich das.
„Was plagt dich?", fragt Hendrik und seine Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Erschrocken realisiere ich, dass ich weine.
Schon wieder!
Das habe ich eigentlich seit Jahren nicht mehr und in Hendriks Anwesenheit passiert es schon das zweite Mal innerhalb von nur etwa sechzig Minuten.
Hendrik, er, scheint das Beste in mir zum Vorschein zu bringen, erinnert mich damit aber gleichzeitig an das Schlimmste. All die schrecklichen Erinnerungen aus meiner Kindheit, ich hatte sie verdrängt und es gab Wege, damit umzugehen und sie unter Verschluss zu halten. Aber jetzt... Es ist ein einziges Chaos und obwohl ich mich seit Jahren das erste Mal wieder lebendig fühle, will ich das eigentlich gar nicht. Ehrlicherweise überfordert es mich. Die Nähe zu Hendrik, nach der ich mich offensichtlich sehne, sie ist zu viel und gleichzeitig kann ich mich nicht gegen sie wehren. Es ist, als wäre er mein Gegenpol und somit der Magnet, an den ich immer wieder anecke, ohne etwas dagegen tun zu können.
„Ich habe gesagt, dass ich anrufen würde", murmele ich. „Aber ich glaube nicht, dass das die beste Entscheidung wäre. Vielleicht hast du Recht, Hendrik." Meine Worte purzeln nur so aus meinem Mund. Es ist längst mein Verstand, der hier spricht. „Ich kann nicht das für dich sein, das du dir sehnlich wünscht."
„Was wünsche ich mir sehnlichst?", fragt er und ich meine tiefen Kummer in seiner Stimme zu hören. Hendriks Lippen beben verdächtig, als ich einen Blick darauf werfe. Schnell wende ich mich ab und stütze die Hände auf die kalten Steinfliesen. Es ist eiskalt, aber in meinem Inneren lodert ein Feuer, so dass ich die Kälte kaum spüren kann. Ich merke nur einen leicht frostigen Windhauch auf meinen hitzigen Wangen, der mich irgendwie erfrischt.
„Du willst über deine Ex hinweg kommen, kannst sie aber nicht loslassen und jetzt ist sie auch noch schwanger von dir. Hendrik, ich kann das nicht. Ich kann nicht ertragen, dass du wegen deiner leiblichen Mutter und vor allem deinem Vater so sehr leiden musst." Die Verzweiflung schwappt in Wellen über mich herein. „Ich kann nicht... Nein, ich will nicht nur dein Trostpflaster sein. Du hast mich als Matratze benutzt und obwohl auch ich anfangs nur Sex wollte, kann ich es nicht... Ich will nicht nur dein Spielzeug sein, Hendrik. Meine größte Angst ist die Liebe, aber ich... ich habe noch nie derart empfunden. Es kann nicht alles nur schlecht sein, oder?"
„Ich glaube ni..nicht." Er stottert leicht und sein intensiver Blick liegt auf mir. „Woher weißt du eigentlich so viel über mein Leben?"
„Du hast mir quasi deine halbe Lebensgeschichte erzählt, als du stockbesoffen warst", sage ich verlegen.
„Oh Gott", bricht es aus ihm heraus. „Ich wollte dich nicht damit belasten..."
„Wie geht es jetzt weiter mit uns, Hendrik?", unterbreche ich ihn. Es ist nicht fair, weil er bestimmt noch mehr sagen wollte, aber ich kann einfach nicht damit umgehen, dass es vielleicht die letzten Minuten mit ihm sein könnten. Ich muss einfach wissen, wie es weitergehen soll.
„Ich weiß es nicht, Kitty", haucht er und gierig trinke ich die Luft, die er dabei ausatmet. Wir sind uns seit Minuten sehr nahe und eigentlich könnte es so einfach sein. Ein Kuss würde mit Sicherheit mehr sagen, als tausend Worte es je könnten. Aber er wird kein Versprechen sein. Wir haben ihn schon geteilt und trotzdem sitzen wir jetzt hier...
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In Your Eyes (Band 3)
RomanceHendrik ist sich sicher, dass er mit Caroline die Frau fürs Leben gefunden hat. Doch selbst im Paradies lauern Gefahren und schnell ist er die rosarote Brille wieder los. Trost sucht er bei seinem besten Freund David, der aber selbst genug mit eigen...