Hendrik
„Wird das jetzt zur Gewohnheit werden?", dringt eine Stimme in meinen vernebelten Verstand. Ich bin mir sicher, dass ich sie schon öfters gehört habe, aber im Moment kann ich sie nicht zu einer Person zuordnen. „Wie lange soll das noch so weitergehen, Hendrik? Der Alkohol kann die Leere in dir, die du so offensichtlich fühlen musst, auch nicht stopfen. Vielleicht kannst du vergessen, aber wie lange und vor allem für welchen Preis?"
Mühselig schlage ich die Augen auf, was ich sofort bereue. Obwohl es Stunden her sein muss, seit ich mich in dieses Bett gelegt habe, dreht sich die gesamte Umgebung, die ich wahrnehme. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie ich hier her gekommen bin. Alles was ich noch weiß ist, dass ich mit Tabea geschlafen habe und anschließend zu ihr gefahren bin, um gemeinsam die Hausbar auseinanderzunehmen. Und sonst ist da nur noch ein riesengroßes, schwarzes Nichts.
„Geh weg", sage ich mit schwacher und zittriger Stimme zu der Person, die auf dem Bettrand sitzt.
„Ich werde nicht gehen, bis wir endlich gesprochen haben, mein Junge."
Mama?!
„Mein Kopf dröhnt und ich fühle mich, als säße ich in einem Karussell. Lass mich bitte alleine", nuschele ich eine Antwort. Am besten wäre es, noch einmal die Augen zu schließen, um hoffentlich wieder in den Schlaf zu finden.
Ich glaube gestern Nacht habe ich den Vogel wirklich abgeschossen.
„Du hast dich selbst dazu entschieden so viel zu trinken, jetzt musst du auch mit den Konsequenzen leben", mischt sich eine viel tiefere und auch kältere Stimme in das Gespräch.
Papa?!
Ich drehe meinen dröhnenden Kopf ein wenig zur Seite und tatsächlich steht eben dieser in meinem Reich, die Arme verschränkt und der Blick aus seinen grauen Augen... hasserfüllt.
Ein stechender Schmerz fährt durch mein Herz und ich verziehe das Gesicht in der Hoffnung, dass ich ihn so unterdrücken kann und auch um die Tränen aufzuhalten, die schon in meinen Augen glitzern.
„Der Junge geht gerade durch eine schwierige Zeit", meint Mama und wirkt dabei beinahe...schüchtern.
„Das ist kein Grund sich die Birne vollzusaufen, bis ihm das Zeugs wieder aus den Ohren rausläuft. Mein Sohn ist ein Weichei, wobei... Er ist ja nicht wirklich mein Kind, sondern das von Marianna. Ein Glück, dass es nicht Hermann war, der sie geschwängert hat. Ich würde den Jungen hochkant aus dem Haus werfen, wenn er Hermanns Gene in sich tragen würde. Aber wie es aussieht, hatte mein Bruder auch nicht sonderlich Glück, was das Zeugen von Nachwuchs angeht. Immerhin etwas, das wir gemeinsam haben. Aber darum geht es ja gerade nicht. Hoffentlich zieht Hendrik bald von selbst aus, immerhin ist er schon dreißig. In seinem Alter hatte ich schon die Firma, dieses Haus und...ihn." Das letzte Wort spuckt Papa aus, als wäre es etwas ungenießbares oder wertloses, nur der Dreck unter seinen Schuhen, der es nicht wert ist angehört oder respektiert zu werden.
„Wieso bist du so gemein zu mir, Papa?", schaffe ich es zu sagen. Nach und nach sickern seine gesagten Worte in meinen Verstand, der sich etwas klart. „Was habe ich dir jemals getan?"
„Du bist eine ständige Erinnerung an den größten Fehler, den deine Mutter jemals begangen hat. Und diesen kann ich ihr einfach nicht verzeihen. Alleine dich anzuschauen, macht mich so..." Er stoppt mitten im Satz und wendet sich ab. Ein seltsames Grummeln geht von ihm aus und wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich fast annehmen, dass es sich dabei um ein paar Schluchzer handelt, die er mit allen Mitteln daran hindert, überhaupt aus seinem Mund zu dringen.
„Aber ich kann doch nichts dafür." Verzweiflung überschwappt mich in Wellen. Zittrig hole ich nach Luft, aber alles was aus meinem Mund dringt ist ein klägliches Wimmern, während die Tränen aus meinen Augen sickern und sich einen Weg über meine Wangen suchen. Verloren kauere ich in meinem Bett, wünsche mir so sehr eine Umarmung, aber weder Mama noch Papa geben sie mir. Nur mein Schluchzen ist zu hören, ansonsten liegt die jetzt erdrückende Stille wie ein schwerer Mantel über uns.
„Stimmt es, Mama?", hauche ich schließlich und schaue die Frau an, die noch immer auf meinem Bettrand kauert, sich aber keinen Meter bewegt hat. „Ist Marianna meine leibliche Mutter?"
„Ja", antwortet sie und ihre Stimme bricht dabei nicht, keine Tränen kullern über ihr Gesicht. Im Gegenteil sie wirkt ziemlich gefasst und so, als würde sie die ganze Situation genauso kalt lassen, wie Papa. Nur ein Zittern verrät, wie unwohl sie sich im Moment fühlt.
Dabei war sie es doch, die erst neulich in Mariannas Armen zusammengebrochen ist. Wieso verstellt sie sich in Papas Anwesenheit immer so dermaßen?
„Marianna ist die Frau, die dich zur Welt gebracht hat."
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In Your Eyes (Band 3)
RomanceHendrik ist sich sicher, dass er mit Caroline die Frau fürs Leben gefunden hat. Doch selbst im Paradies lauern Gefahren und schnell ist er die rosarote Brille wieder los. Trost sucht er bei seinem besten Freund David, der aber selbst genug mit eigen...