15/Zerknülltes Papier

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Hendrik

Marianna! Warum ist sie nicht hier? Neulich hat sie sich fast schon in das Gespräch gedrängt und wollte mit Sicherheit alles auf den Tisch hauen, wenn ich nicht abgehauen wäre. Und jetzt? Bin ich womöglich selbst schuld, dass sie heute nicht hier dabei ist? Oder ist sie einfach nur zu feige, um mir in die Augen zu schauen, jetzt wo die Wahrheit endlich raus ist?

Im Moment fühle ich so viel und doch auch gar nichts. Der Schmerz in mir hat sich schon viel zu sehr in mein Herz genagt und außer den Scherben ist da nichts mehr. Gebrochen. Diese eine Wort umschreibt alles, was ich gerade bin.

Beinahe dreißig Jahre haben meine Eltern mich angelogen. Meine leibliche Mutter war seit meiner frühesten Kindheit an meiner Seite und hat mich aufwachsen sehen. Selbst sie hat mich mein ganzes, bisheriges Leben hintergangen. Warum hat sie das getan? Wieso war es ihr so wichtig an meiner Seite zu sein, nachdem sie mich damals einfach weggeben hat? Die meisten die einen solchen Schritt wagen, kommen nie mehr zurück und wollen oft überhaupt nicht gefunden werden. Irgendeinen Grund gibt es, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt wissen möchte. Ich bin längst erwachsen und trotzdem gerade der kleine Junge, der einsieht, dass sein Leben schon von Anfang an dazu verdammt war, den Bach runter zu gehen.

Ein einziger Scherbenhaufen, der sich mein Leben nennt.

Jetzt sind es nur noch Mama und ich. Verloren steht sie ein paar Schritte neben der Tür, aus der Papa vor ein paar Minuten, ja schon beinahe geflohen ist.

„Sag was", dränge ich sie verzweifelt, aber sie ist noch immer wie erstarrt und meidet seit einer geraumen Zeit den Blickkontakt zu mir. „Mama, bitte."

„Ich... Ich", versucht sie es, ehe ihr die Stimme wegbricht.

„Das ist alles, Mama?" Vielleicht ist es die Wut, die mich anspornt, vielleicht ist es aber auch die Verzweiflung. „Wo ist Marianna? Sie soll mir alles erklären."

Alles was ich zur Antwort bekomme, ist ein Kopfschütteln und dann bricht meine Mutter in sich zusammen. Langsam sinkt sie an der Wand hinab, ehe sie auf dem Laminatboden sitzt, die Beine von sich gestreckt und den Kopf gegen die Wand gelehnt. Ihr leises Weinen dringt in meine Ohren und ein Teil von mir will sie trösten, sie halten, wie sie es immer getan hat, als ich klein war und es mir schlecht ging. Der andere Teil in mir hasst sie abgrundtief. Sie war all die Jahre fast genauso kalt zu mir, wie Papa. Seine Liebe hat ihr wohl immer mehr bedeutet, als ich. Und auch wenn sie es immer wieder versucht hat, sich gegen ihn zu wehren und mehr für mich da zu sein... Es war immer zu wenig und sie hat zu leicht aufgegeben.

Und dann war da immer... Marianna. Ihre Umarmungen haben mir Trost geschenkt und Gefühle in mir ausgelöst, die mir eigentlich meine Eltern hätten schenken müssen.

Dabei ist sie ja genau das. Meine Mutter.

„Ich brauche Antworten", versuche ich es erneut. Mama harrt noch immer auf dem Boden aus, ihre Hände liegen schützend vor ihren Augen, damit ich ihre Schwäche nicht sehen kann.

„Papa. Er hat...", versucht sie es erneut. „ Marianna. Sie ist... Papa hat sie gekündigt", kommt es endlich leise von ihr. „Hermann hat uns gestern besucht und das hat ihn so rasend gemacht, dass er ihm und Marianna Hausverbot erteilt hat. Ich war nicht dabei, Hendrik. Ich kann nur sagen, was Papa mir erzählt hat..."

„Und warum unternimmst du dann nichts?" Jetzt hat mich eindeutig die Wut gepackt und ich schreie meine Mutter schon beinahe an. "Nimmst du es ernsthaft einfach so hin, dass Marianna nicht mehr hier arbeiten wird? Tust du so, als wäre nichts passiert, obwohl du mir erst vor etwa einer Stunde gestanden hast, dass ich nicht dein Sohn bin? Warum bist du so abhängig von Papa? Was hat er gegen dich in der Hand, Mama?"

„Wie redest du eigentlich mit mir? Nur, weil du kein Kind mehr bist, kannst du dir trotzdem nicht alles erlauben. Ich versuche seit Jahren die Familie zusammenzuhalten und vielleicht verstehst du es nicht, weil du noch keine eigene Familie hast, aber manchmal muss man Opfer bringen, um die zu schützen, die man am meisten liebt."

„Nein, dass verstehe ich wirklich nicht. Und weißt du auch warum, Mama? Weil hier niemand mit mir spricht. Wie denkst du fühlt es sich für mich an, dass ich mit meinen neunundzwanzig Jahren noch bei meinen Eltern wohne? Ja, vielleicht habe ich es mir selbst so ausgesucht, aber wo soll ich den sonst hin?  Papa verabscheut mich seit meiner Kindheit, als wäre ich nur ein lästiges Insekt, das er gerne bei der nächsten Gelegenheit zerquetschen würde, damit es endlich Ruhe gibt. Er will unter allen Umständen, dass ich wieder nach Mallorca verschwinde, damit er mich nicht... ertragen muss. Und du, Mama. Ich wusste immer, dass du mich liebst und trotzdem hast du mich fast nie vor meinen Vater verteidigt.  Du hast immer gemacht, was er gesagt hat und wenn er dann mal nicht da war... Ich habe es geliebt, wie du dann mit mir umgegangen bist. Du warst dann immer ein anderer Mensch und ich erhoffte mir insgeheim, dass wir zusammen abhauen. Weg von Papa, um endlich glücklich zu sein... Trotzdem habe ich nie die Hoffnung aufgegeben und glaube noch heute daran, dass wir eines Tages wieder zusammen finden können. Marianna mag meine leibliche Mutter sein, aber Papa und du, ihr seid meine Eltern... Ich will doch nur verstehen, Mama."

Mama kommt zittrig auf die Beine, dann zieht sie einen kleinen Zettel aus ihrer Hosentasche.

„Das hier ist Mariannas und Hermanns Adresse", sagt sie schniefend und überreicht mir das ziemlich zerknüllte Papier. Bestimmt hat sie es aus Papas Mülleimer gefischt. „Vielleicht können die beiden dir Antworten auf deine Fragen geben. Ich schaffe es einfach... nicht."

In Your Eyes (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt