Es war wieder Yui, die mich in der nächsten Nacht zeitig vor Abfahrt weckte. Sehr zeitig. Diesmal mit lautem Klappern aus der Küche und dem Geruch nach Teig und Tintenfisch. Wer bereitete freiwillig um diese Uhrzeit Takoyaki zu? Ich rollte mich aus dem Bett. Yui wohl kaum, also musste es wegen Ayato sein, denn das Küchenpersonal war es ganz sicher nicht. Meine Schlussfolgerung bestätigte sich kurz später, als ich vor der Küchentür stand. Yui steckte ellenbogentief im Spülbecken und hatte den Kopf zu Ayato gedreht, der direkt hinter ihr stand und die Hände auf ihrer Taille hatte. Es war nicht genau zu erkennen, ob er ihr Blut trank oder sie sich küssten, aber es kam aufs selbe heraus, denn niemand beachtete die Schale Takoyaki. Drei Minuten später lehnte ich mit der Schulter an der Wand neben der Küchentür und hörte dem Streit zwischen Reiji und Ayato zu.
"Einmal am Tag reicht, Ayato!"
"Aber ich hab sie nicht gegessen!"
"Ayato." Reiji glaubte ihm nicht. Yui konnte sie so offensichtlich nicht gegessen haben, dass sie diesmal fein raus war und ihr Blut erfüllte die Küche so allgegenwärtig mit dem starken süßlichen Geruch, dass niemand auch nur auf die Idee kam, dass ich es gewesen war. Die Luft hinter mir veränderte sich. Aus Leere wurde solide Ruhe. Shu.
"Lauschst du etwa Ayato und seinem Menschen? Ich habe dich nicht für jemanden gehalten, die-" Ich drehte mich, sodass ich mit dem Rücken an der Wand lehnte und hielt einen Finger vor die Lippen. Shus Blick fiel auf die Schale in meinen Händen, dann auf die Tür, durch die noch immer der Streit drang. Andere Geräusche, als die, von denen er ausgegangen war.
"Was? Willst du behaupten, sie hätten sich in Luft aufgelöst?"
"Ich will behaupten, dass es reicht, Ayato. Du wirst jetzt ins Auto steigen und ich werde von dir nichts mehr darüber hören." Statt zuzuhören, betrachtete ich Shu. Durch meine neue Position standen wir so nahe, dass ich jede Regung in seinem Gesicht sehen konnte. Sein kleines Grinsen überraschte mich, aber noch mehr überraschte mich, dass sich ein stolzes Grinsen auf meinem Gesicht spiegelte. Was ein Akt der mangelnden Beschäftigung gewesen war, war plötzlich unglaublich amüsant zu belauschen. Beleidigtes Stampfen bewegte sich in unsere Richtung. Shu löste sich in Luft auf. 'Arschloch.' Ayato trat heraus. Beleidigt. Ich wackelte grüßend mit den Fingern, bevor ich mir den letzten Takoyaki in den Mund steckte und über die Lippen leckte.
"Ayato, warte", rief Yui, als sie hinter ihm aus der Tür kam. "Ich mache dir neue, wenn-" Der kurze Moment, den er abgelenkt war, war mehr als genug. Als er sich zurückdrehte, war ich bereits verschwunden.Keine drei Tage später saß ich nach einem Albtraum zusammengesunken am Esstisch in der Mittagssonne und rührte in meinem Kakao. Ich wusste, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass einer der Brüder auftauchte und mich dabei störte, wie ich mich in meiner schlechten Laune treiben ließ. Vielleicht war es aber auch das, was ich wollte. Vielleicht hoffte ich, dass jemand kam und die Einsamkeit vertrieb, damit ich mich endlich ausruhen konnte. Ayato war noch immer beleidigt, hielt sich aber unerwartet viel fern von mir. Wenn ich die letzten Tage nicht in der Schule gewesen war, hatte ich die wenige Zeit in einem der Sessel verbracht und Bücher gelesen. Es war ungewohnt und eigenartig ermüdend, mehrere Stunden auf einem Stuhl zu sitzen und zuhören zu müssen. Ich konnte gut verstehen, wieso Shu sich ins Musikzimmer der Schule zurückzog – scheinbar regelmäßig. Dem Blonden war seine Ruhe offenbar wichtig, deshalb wunderte es mich, dass er immer, wenn ich las, auf einem der Sofas auftauchte und seine Musik hörte oder schlief. Verwunderlich deshalb, weil – wie ich nach nur zwei Tagen festgestellt hatte – keiner der Brüder, und einige Male das Menschenmädchen, lange auf sich warten ließen, um vor mir aufzutauchen und etwas zu wollen. Die Ruhe in meiner Näher war immer nur von kurzer Dauer. Anfangs hatte es mich unruhig gemacht, weil ich nicht gewusst hatte, was er wollte, aber ich hatte mich daran gewöhnt und es war angenehm geworden, in den kurzen stillen Augenblicken nicht allein dort zu sitzen. So schnell es laut wurde in der Villa, ebenso schnell legte sich die unnatürliche Stille wieder über alles. Umso einsamer war es gewesen, wenn ich schlafen ging. Keine Geräusche. Kein Rascheln von Kleidung. Kein Atem. Kein Herzschlag. Keine Präsenz. Nichts. Und die Einsamkeit hatte wieder ihre kalten Krallen in mein Herz gebohrt. Ich war es gewohnt.
Mitten am Tag war ich schweißgebadet aus einem Albtraum hochgeschreckt und jetzt saß ich hier und starrte blicklos und mit müden Augen auf die heiße Tasse in meinen Händen.
"Sie blutet, Teddy." Ich hob kaum den Kopf, als Kanato in der Tür auftauchte und bemerkte dabei den metallenen Geschmack in meinem Mund. Kanatos Haare waren zerzaust und er hatte den Teddybären fest an seine Brust gedrückt. Meine Miene blieb regungslos und ich wandte mich uninteressiert wieder ab. Offensichtlich hatte ich auf meiner Lippe gekaut, ohne es zu bemerken. Selbst in vollständiger Menschenform waren meine Zähne kaum merklich spitzer, aber definitiv schärfer, als sie sein dürften und hatten die dünne Haut angeritzt. Ich löste die Hand von der heißen Tasse und schob sie in seine Richtung. Meine Hand war gerötet und kribbelte von der Hitze. Ich blinzelte. Offensichtlich war ich abwesender gewesen, als bemerkt. "Kannst du haben, wenn du willst. Ich trink ihn nicht mehr." Kanato war nähergetreten und ich entdeckte schwarze Stellen im Fell des Kuscheltiers. Verbrannte Stellen.
"Was ist da passi-" Kanato riss das Kuscheltier weg und schleuderte dabei die Tasse gegen die Wand.
"Fass Teddy nicht an!" Ich konnte nicht mehr Emotionen aufbringen, als milde genervt zu sein, während ich beobachtete, wie die braune Flüssigkeit die Wand herunterlief. Überall dort, wo sie die Flüssigkeit aufsaugte, blühten kleine Muster auf. Nagut, ein bisschen lustig fand ich es schon. Was Reiji wohl dazu sagen würde? Ich seufzte und rieb mir über das Gesicht, dann drehte ich mich wieder zum Tisch.
"In Ordnung." Stille legte sich über das Zimmer. Wahrscheinlich würde ich in ein paar Tagen doch neugierig werden, aber jetzt interessierte mich es reichlich wenig, warum er so überreagierte. Wenn es bedeutete, dass ich meine Ruhe hatte, würde ich Teddy eben nicht anfassen, bis ich die Ruhe für meine Neugier opfern wollte. Hoffentlich kam sie.
"Ich wusste, du intressierst dich nicht für uns." Kanatos Stimme war auf einmal leise und ich rollte die Augen über die Ironie. Die Sakamakis waren die ersten, für die ich seit Jahren etwas Vergleichbares wie Interesse empfand.
"Natürlich." Immerhin würden sie nicht so schnell verschwinden können wie sterbliche Wesen. Lila Flammen loderten in meinen Erinnerungen auf und plötzlich fühlte sich meine Handfläche unerträglich heiß an. Ich schloss die Hand und zog sie in meinen Schoß.
"Lüg nicht! Du bist genau wie Yui nur ein wertloser Mensch!" Mein Kiefer spannte sich. Jetzt wünschte ich mir wirklich, er würde verschwinden. Ich hatte keinen Nerv dafür, mich anschreien zu lassen, während die Toten und das brennende Dorf noch frisch vom Albtraum in meinem Kopf wüteten. Vor allem, wenn sein Bild von mir so falsch war. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Sauerstoff der meine Lungen füllte. Einatmen, ausatmen. Gerüche aus lang vergangenen Zeiten drängten sich in meine Nase und ich riss die Augen auf. Starrte stattdessen an die gegenüberliegende Wand. Die dürftige Mauer um meinen Verstand fing an zu bröckeln.
"Du bist es, der nicht versteht." Kanato reagierte nicht auf meine Worte und etwas krallte sich schmerzhaft um mein Herz. Ich hatte es satt, nicht angemessen behandelt zu werden. Nach nicht weniger als einer Woche, riss meine Geduld. Heiße Wut brodelte in mir auf. Meine Fingernägel bohrten sich in die Holzplatte. Die Wut verschluckte den kalten Schmerz von Einsamkeit und Verlust. Sie waren nicht verschwunden, aber sie nährten meine Wut und ich ließ es zu. Ich zog es um mich, wie eine Decke. Kanato wetterte einfach weiter. Es fühlte sich so viel besser an. Mit Wut konnte ich umgehen. Wie man Wut rauslassen konnte, wusste ich. Er bemerkte nicht, wie meine Haare dunkler, meine Pupillen schmäler wurden oder wie meine Iris einen Gelbstich bekam. Es war eine aktive Emotion, keine lethargische wie Trauer und so viel besser. Aber ich musste mich zurückhalten. Ich stand ruckartig auf und packte ihn am Kragen. Ich zerrte ihn grob auf meine Augenhöhe. Er stolperte und verstummte überrascht von meiner Kraft. Das Lila seiner Augen brannte sich durch meine Schutzmauer und ließ die Erinnerungen heftig aufkochen. Noch brodelte meine Wut stärker.
"Du hast nicht die geringste Ahnung von mir oder meinem Leben, Kanato Sakamaki." Aber ich musste mich zurückhalten. Ich ließ ihn los, bevor ich etwas tat, was ich später bereute. Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. 'Wie immer.' So wie immer, musste ich mich zurückhalten, damit nichts kaputtging. Jedes weitere Wort wäre verschwendet gewesen. Kanato starrte mich schon jetzt mit aufgerissenen Augen an. Ich drehte mich um, bevor ich mich nicht mehr zurückhalten konnte und setzte mich zurück auf einen der Stühle. Das Gesicht von ihm abgewandt. Kanato stand weiter schweigend an der Tür.
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, als ich meine Mimik wieder unter Kontrolle hatte. Für den Moment. Er hatte den Kopf schief gelegt, sein Schlafshirt war zerknittert und hing schief auf seinen Schultern. Ich konnte seinen Ausdruck nicht deuten, aber gerade als ich mich wieder abwandte, sagte er: "Ich will dir morgen meinen Lieblingsort zeigen." Damit drehte er sich um und lief langsam aus dem Zimmer. "Meinst du, es wird ihr gefallen, Teddy?" Ich war wieder allein in dem kalten, lichtdurchfluteten Esszimmer. Die Tür fiel zu und mit ihr brachen die Mauern, die die Erinnerungen notdürftig zurückgehalten hatten, endgültig in sich zusammen und sie strömten ungehindert auf mich ein. Mir wurde übel und ich lehnte die Stirn gegen die Tischplatte. Der Schmerz, den ich unterdrückt hatte, kam wieder hoch und ertränkte die Wut. 'Warum jetzt?'********************
Und das war schon das erste Viertel.
Wie gefällt es euch bisher? Ich freue mich eure Meinung zu hören :)
Ansonsten: Enjoy your week und bis zum nächsten Kapitel! Ich freue mich auf euch ✌️
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Old Blood
FanfictionAllein und verfolgt sucht Sayoko Zuflucht im Anwesen der Sakamaki-Brüder. Wird sie dort endlich die Atempause bekommen, die sie so unbedingt braucht und vielleicht sogar ihre Macht zurückerlangen, oder wird der Tod ihr auch dorthin folgen? Die Recht...