9. Kapitel

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Mühelos zog ich mich durch das Fenster und augenblicklich richtete sich ein Paar blauer Augen auf mich. Vor Überraschung blieb ich mit dem Fuß am Fensterrahmen hängen und stolperte einige Schritte über den Boden. Shu bewegte sich nicht. Einen, zwei, drei Herzschläge starrte ich zurück, dann richtete ich mich auf und wischte mir Blut aus dem Mundwinkel, nickte ihm zu und sprang leichtfüßig die kurze Treppe aus seinem Zimmer hoch, bevor er Fragen stellen konnte. Auf dem Gang stieß ich beinahe mit Reiji zusammen.
"Entschuldige." Reiji musterte mich kritisch, dann wanderte sein Blick zu der Tür hinter mir. Es war offensichtlich, dass er mich fragen wollte, was ich in Shus Zimmer zu suchen hatte. Ich zog die Tür zu und lächelte höflich. Er fragte nicht. 'Gut', dachte ich, dann abschätzig: 'Langweilig. Voraussehbar.' Für eine Sekunde suhlte ich mich in dem Aufwallen meines Egos. Reiji drehte sich um und ließ mich stehen.
"Ich erwarte dich in meinem Labor." Ich rollte die Augen, wartete, bis er um die Ecke verschwunden war, dann stieß ich die Luft aus und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür. 'Weiß Reiji mehr als die anderen über die Pläne ihres Vaters?' Immerhin schien er den Haushalt zu führen, also warum sollte er ihm nicht mehr erzählt haben? Ich stieß mich von der Wand ab und folgte dem Weg, den Reiji genommen hatte. Vielleicht wusste er nicht mehr über mich als die anderen, aber vielleicht wusste er etwas, das ich nicht über die Pläne wusste. Es sollte kein Problem sein, Antworten aus ihm herauszulocken. Und wenn meine Annahme richtig war, verbrachte Reiji viel Zeit in seinem Arbeitszimmer. In dem Arbeitszimmer, in das er mich soeben eingeladen hatte.
Was zuerst auffiel, waren die Bücher. Sie füllten ein riesiges Bücherregal und standen in ordentlichen Gruppen oder lagen aufgeschlagen zwischen Reagenzgläsern, Kolben und Apothekergläschen auf dem Schreibtisch. Obwohl er so vollgestellt war, schien alles darauf einer gewissen Ordnung zu unterliegen. Reiji schaute über die Schulter und machte eine einladende Handbewegung. "Tritt ein." Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu. "Und schließ die Tür." Ich folgte der Anweisung, blieb davor stehen und schaute zu, wie er einen Tee aufsetzte. Was genau er tat, konnte ich nicht sehen, aber das Aroma verriet mir, dass der Tee widerlich schmeckte. An den Namen erinnerte ich mich nicht mehr, dafür an die zahllosen Male, die ich ihn schon hatte trinken müssen. Er wurde wohl nie zu alt. Als Reiji vom Tisch zurücktrat, konnte ich kurz drei kleine Pflanzen mit noch kleineren Blüten sehen. Mit einem höflichen Lächeln nahm ich die Tasse entgegen. Beinahe war ich enttäuscht, wie leicht ich das adrette Verhalten annehmen konnte, aber nur fast. Noch hielt das Hoch vom Ausflug in den Wald, auch wenn es bereits wieder abebbte.
"Du wolltest mich sprechen?" Reiji nickte, schob die Brille zurecht und bedeutete mir abwesend, mich auf einen Stuhl zu setzen. Im Gegensatz zu dem breiten roten Sessel im Raum, hatte er nur eine einfache, ungepolsterte Sitzfläche. Er spielte Psychospielchen. Die Farbe erinnerte mich an einen Strauch giftiger Beeren, den ich vorhin im Wald gesehen hatte.
"Du musst wissen, es kommt nicht häufig vor, dass ich meinen Tee mit jemandem teile." Ich überschlug die Beine und lehnte mich zurück.
"Ich fühle mich geehrt." Gelangweilt nippte ich an dem heißen Getränk. Dabei ignorierte ich Reijis stechenden Blick. Er suchte nach einer bestimmten Reaktion auf etwas. Der Tee schmeckte genauso streng, wie ich ihn in Erinnerung hatte und ich setzte die Tasse mit leisem Klicken wieder auf der Untertasse ab. Für jemdanden mit weniger feinem Geschmackssinn, überdekte er den anderen Geschmack in der Tasse. Mit nettem Lächeln erwiderte ich Reijis Blick und wartete.
Er runzelte die Stirn.
"Das ist ungewöhnlich."
"In der Tat." Ich stellte Tasse und Untertasse auf den kleinen runden Tisch zwischen uns. "Es kommt nicht alle Tage vor, dass man mir Chemikalien in den Tee mischt." Die Hände legte ich ordentlich auf dem Knie ab. Es war keine, die mir etwas anhaben konnte. "Darf ich erfahren, was sie hätten bewirken sollen?"
"Schreckliche Schmerzen." Ich musste niesen.
"Nein. Keine Schmerzen. Nur ein leichtes Kribbeln in der Nase." Ich musste erneut niesen. Reiji erhob sich, nachdem er eine Weile regungslos durch mich hindurchgesehen hatte und ich tat es ihm gleich.
"Du darfst gehen." Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, zögerte noch einen Moment, dann lief er zur Tür.
"Ich werde in die Bibliothek gehen und mich über etwas informieren." Ich lächelte zustimmend. Kaum war Reiji aus dem Raum verschwunden, schaute ich mich um und schüttelte etwas mühsam die eintönige Höflichkeit ab. Unter den Büchern auf dem Schreibtisch hatte ich beim Hereinkommen ein Notizbuch entdeckt. Auch ohne die Fragen zum Vampirkönig, würde ich es mir nicht nehmen lassen, die Nase in seine privaten Unterlagen zu stecken.
Leider fand ich nichts Interessantes in den Notizen – chemische Formeln und Kritzeleien und Berechnungen – und die Chemikalie hatte wohl mehr Wirkung erzielt, als ich gedacht hatte. Eigenartig, denn eigentlich war sie harmlos für mich, dennoch kostete es mich mehr Kraft, als sie sollte. Ich schob alles an seinen Platz zurück und schloss die Tür hinter mir. Der Boden schwankte. Ich war wirklich nicht in meiner Höchstform.

Als ich wieder aufwachte, stimmte etwas nicht. Etwas fühlte sich falsch an. Aufmerksam streckte ich meine Sinne aus: Kein fremder Geruch. Keine Präsenz. Kein Geräusch, außer dem leisen Prasseln von Regen. Als Nächstes schlug ich die Augen auf: Dunkelheit, fast schwarz. Der blasse Streifen Mondlicht zwischen den Gardinen. Ich konnte kaum die Möbel erkennen. Ich setzte mich auf und bemerkte erst, dass ich aus Gewohnheit nach den verschlungenen Lederbändern um mein Handgelenk gegriffen hatte, als ich nackte Haut berührte. Mir wurde kalt. Das Blut rauschte in meinen Ohren, floss schneller. Im selben Augenblick, in dem ich mich vergewisserte, dass ich mich nicht getäuscht hatte, nahm ich Ayatos Geruch wahr. Und tatsächlich, als ich die Tür aufwarf, lehnte er im Gang einige Meter zu meiner Linken und warf mit einem selbstzufriedenen Grinsen mein Lederarmband in die Luft, nur um es wieder aufzufangen und erneut hochzuwerfen. Das sollte wohl die Rache für meine Antworten beim Dinner sein. Oder die Takoyaki-Aktion. Oder beides. Das Beste wäre ruhig zu bleiben, nicht zu zeigen, wie sehr es mich aufwühlte. Ayato löste sich in Luft auf und ich knallte die Tür hinter mir zu.
"Ayato!" Der Vampir tauchte am Ende des Ganges wieder auf. Er lachte nur und schlenderte betont gemütlich um die Ecke. 'Scheiß auf Ruhe.' Die hatte ich nicht nötig. Als ich ankam, war er schon am anderen Ende des Ganges, blieb gerade lange genug stehen, damit ich ihn sehen musste. 'Dämlicher Abschaum von Blutsauger.' Ich nutzte ein wenig mehr Kraft als menschenmöglich und innerhalb eines Herzschlages lag die Hälfte des Ganges hinter mir. Ich nahm kaum wahr, dass auf einmal jemand mitten im Weg stand und stieß ihn beiseite. Meine Füße rutschten über den Boden, als ich um die Ecke schlitterte, meine Finger streiften für einen kurzen Augenblick den Boden, dann hatte ich mein Gleichgewicht wieder und Ayato eingeholt. Ein tiefes Knurren vibrierte durch meinen Brustkorb, als ich mich vom Boden abstieß. Ayato fuhr herum, die Augen aufgerissen. 'Zu spät.' Mit voller Wucht krachte ich gegen ihn und riss ihn von den Füßen. Er schlug hart auf dem Boden auf, rutschte noch einige Meter, bevor mein Knie seine Arme fixierten und ich den Unterarm auf seine Kehle presste. Meine gelb glühenden Augen bohrten sich in seine, meine Lippen abschätzig verzogen. Ohne den Blick zu lösen, riss ich ihm das Armband aus der Hand, dann stand ich in einer fließenden Bewegung auf und schaute abfällig auf ihn herab und drehte mich um. Meine Finger gehorchten nicht richtig, als ich versuchte das Armband zu untersuchen – ich schob es auf den Stress des Moments – und erst als ich um die Ecke trat, bemerkte ich das Blut unter meinen Fingernägeln und schaute auf. Der Anblick ließ mich innehalten. Laito lehnte zusammengesunken an der von Rissen durchzogenen Wand. Sein zerfetztes Oberteil war dunkel vor Blut. Ich seufzte. 'Da wären wir wieder.' Dann war Laito wohl der erste Verletzte. Es hatte länger gedauert, als erwartet. Ich nahm meine Schritte wieder auf und versuchte das Armband weiter am Handgelenk zu befestigen. Erst als ich neben ihm stand, konnte ich die vier tiefen Schnitte sehen, die sich über seinen Oberkörper zogen. Wieso schlossen sich die Wunden nicht schneller? Mit einem Stirnrunzeln ging ich in die Hocke und schaffte es endlich, das Armband zu schließen. Ich streckte die Hand aus, um die Fetzen von Laitos Oberteil beiseite zu halten, damit ich die Verletzung besser sehen konnte. Meine Finger gehorchten mir wieder und es war bereits einfacher zu denken. Ich zog die Hand zurück und wischte das Blut flüchtig an meiner Hose ab, bevor ich Laitos Kinn anhob. Seine Augenlider flatterten. Also war er nicht ohnmächtig. 'Gut.' So konnte das Blut nicht versehentlich in der Luftröhre landen. Ich drückte mein Handgelenk gegen meine Eckzähne, bis es zu bluten begann und hielt mit der anderen Hand seinen Kiefer fest. Es war noch zu früh, dass jetzt schon einer starb. Laito stöhnte und seine Augen öffneten sich. Der Blick war ohne Fokus. "Bitch-...chan?" Ich antwortete nicht. Er war bereits wieder so weit weggetreten, dass er es ohnehin nicht mitbekommen hätte. Ledersohlen streiften über Stoff. Gerade so verhinderte ich es zusammenzuzucken. Ich musste einen Blick über die Schulter werfen, um zu sehen, dass es Shu war. Warum hatte ich ihn nicht bemerkt? Warum nicht erkannt? Fahrig wischte ich das Blut von meiner Wunde, die sich bereits wieder geschlossen hatte. Warum hatte ich Ayatos Geruch in meinem Zimmer nicht vorher erkannt? Jetzt wo ich darüber nachdachte: Warum konnte ich Laito ohne Probleme sehen, wo ich in meinem Zimmer trotz Mondlicht kaum die Möbel hatte sehen können? Im Gang gab es kaum Licht. Die Wände rückten näher. Plötzlich fühlte ich mich eingeengt – zu leise. Zu wenig Gerüche im Stein. Zu wenig Platz. Zu wenig Luft – also suchte ich nach dem nächstbesten Fenster. Die Frage, wie ich Reiji das vampirgroße Loch in der Wand erklären sollte, schob ich auf später und schwang mich vom Fensterbrett aufs Dach. Das war es nicht gewesen, was ich mit 'wieder fühlen' gemeint hatte.

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