Mitten am Tag wachte ich auf. Die Haut klamm und überhitzt zugleich, mein Inneres taub. Ein starker Gegensatz zum gestrigen Abend. Shu war verschwunden. Blicklos schaute ich den schmalen Lichtspalt zwischen den Vorhängen an. Ich hatte von Edgar geträumt. Diesmal nur von ihm. Seine Ausflüge in den Wald, wenn er seinen Eltern entkommen wollte, die Äpfel, die er immer und überall auftreiben konnte, unsere erste Begegnung im Schnee, der Moment, als er in den Flammen aufgetaucht war, um seine Eltern zu retten, während ich sie zurückließ. Alle drei. Mein Blick hatte ihn nur gestreift, bevor die Jäger sie bemerkt hatten, aber es war lange genug für die Schuldgefühle gewesen, sich in meiner Brust festzukrallen. Ich rollte mich zusammen und zog die Decke fest um mich, obwohl mir viel zu heiß war. Es war eine fiebrige Hitze. Über die Jahre hatte ich es verdrängt, nicht daran gedacht, aber jetzt wurde mir übel von ihnen. Ich hatte schon lange Albträume. So lange, dass ich mich an keine Zeit erinnern konnte, in der es nicht so gewesen war, aber der Inhalt wechselte mit den verstreichenden Jahren und wurden mit jedem Mal voller und verschwommener und bruchstückhafter. Dieser Traum, die Intensität der Gefühle und Erinnerungen hatten mich unerwartet getroffen. Es waren nicht die ersten Toten meinetwegen gewesen und es würden auch nicht die letzten sein. Tränen tropften lautlos von meinen Wangen, bis der Kissenbezug nass an meiner Haut klebte. Die Schuldgefühle hatten mich unerwartet getroffen und das Verlangen, in meiner Matratze zu versinken, wurde überwältigend. Ich hatte gedacht sie erfolgreich verdrängt zu haben. Alle drei waren tot. Seine Eltern hatten gewusst, was sie riskierten, als sie mich aufgenommen hatten, und ihren Tod selbst gewählt. Und dennoch waren sie meinetwegen gestorben und ihr Sohn war ihnen gefolgt. Ich rang mit der Schuld und dem Schmerz, die sich wie der Rauch in meinen Lungen festsetzen und das Atmen fast unmöglich machten.
Als Kanato auftauchte, hatte sich nichts an meinem Zustand geändert. Er hatte sich nach der Sache mit Teddy in seinem Zimmer eingeschlossen, jetzt brachte er eine neue Angst mit. Es war gleichzeitig eine Altbekannte. Zusammengerollt lag ich unter der Bettdecke und starrte blicklos in den Raum. Die Vampire waren halbwegs stark und eine einflussreiche Familie, aber was passierte, wenn die Jäger einen Weg fanden? Bilder schoben sich über die Zimmerwand: die Brüder und Yui tot, in riesigen Blutlachen, leere Augen, meinetwegen gestorben. Unwissend und unbeteiligt. Kanato zerrte an meiner Decke und die Bilder lösten sich in Rauch auf. Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, schaute ich ihn an. Die Ringe unter seinen Augen waren noch dunkler als sonst.
"Dein Herzschlag stresst und Ayato ist am Durchdrehen, weil Yui weg ist. Eure Hysterie nervt. Komm mit." Eiskalte Finger berührten meinen rechten Knöchel – der einzige Teil, der nicht unter der Decke lag, nicht mehr jedenfalls – und mein Zimmer verschwand. Stattdessen fand ich mich plötzlich in Ayatos Zimmer wieder. Meine Decke lag noch um meine Schultern. Kanato verschwand wieder. 'Yui ist weg? Seit wann?' Der Rothaarige lief hin und her, von rechts nach links, von einer Ecke in die andere, trat gegen etwas, das aussah wie eine zum Bett umfunktionierte Eiserne Jungfrau, und wieder zurück. Ayato strahlte so viel Aggression, Stress und Frust aus, dass es mich beinahe mitriss und selbst unruhig machte. Beinahe. Stumm schaute ich zu. Wenn ich so zurückdachte, war die Villa wirklich ungewohnt ruhig gewesen. Der allgegenwärtige Herzschlag war verschwunden, ohne dass ich es bemerkt hatte. Wie ein Radio, das unbemerkt ausging. Es musste gestern irgendwann passiert sein. Als Kanato wieder auftauchte, stand Laito neben ihm. Er hatte die Augen nur halb geöffnet und seine Haare sahen aus, als hätte er fast genauso wenig geschlafen wie Kanato. Der kleinste der Drillinge murmelte etwas von "falsches Zimmer" und "geht nicht" und "Freak" und im nächsten Moment stand ich im nächsten Zimmer. Diesmal waren Spielzeuge überall auf dem Boden verteilt. Kanato begann damit, eine absurd große Zahl an Decken und Kissen von den unmöglichsten Orten in seinem Zimmer zu ziehen und sie auf dem Bett zu stapeln. Laito und ich standen daneben und schauten zu, Ayato stapfte weiter durchs Zimmer. Ich war mir nicht sicher, ob er den Raumwechsel überhaupt bemerkt hatte.
"Wie hast du sieben Decken in eine Schublade bekommen?"
"Das haben wir früher oft gemacht, vertrau mir." Ich blinzelte träge. Das war nicht die Frage gewesen. Ob es die anderen auch interessierte, dass Yui verschwunden war? Oder nur Ayato?
"Wir sind keine kleinen Kinder mehr, Kanato", kommentierte Laito gereizt und wollte gehen, aber er hatte sich kaum gedreht, da flog etwas scheppernd gegen die Tür und zersplitterte in einem Regen aus Holzspänen. Laito blieb stehen.
"Du bleibst!" Ich wischte mir einen der Holzsplitter vom Schlafanzug, der neben den anderen landete, die jetzt den Teppich zierten. Es waren helle Lacksplitter mit blassblauem Muster darauf zu erkennen. Laito seufzte und drehte sich zurück und ließ sich in den Haufen fallen, worauf Kanato etwas Unverständliches zischte und die Sachen unsanft unter ihm herauszerrte, bevor er an Ayato zu zerren begann. Ich gähnte und tat es Laito gleich. Dafür schob ich ihn mit wenig Rücksicht zur Seite und wand mich unter den Stapel, bis ich vollständig auf dem Bett lag. Mir war immer noch heiß. Mit halb offenen Augen beobachtete ich Kanato und Ayato. Es war eigenartig entspannend. Ihr Gezanke hielt mich vom Denken ab und ehe ich es mich versah, dämmerte ich weg. Allerdings nicht lange, denn kurze Zeit später hatte Kanato Erfolg und wir stöhnten gequält auf, als er seinen Bruder aufs Bett beförderte und damit auf Laito und mich. Dann quetschte er sich dazu und nach einigem Geschiebe, weil niemand sich so recht bewegen wollte – Ayato brütete trotzig vor sich hin und Laito und ich waren träge vor Müdigkeit – fand ich mich inmitten eines Knäuels aus Decken, Kissen, Armen und Beinen wieder. Keiner lag vollständig unter einer der Decken und ich war froh darüber, jetzt, wo ich nicht mehr allein mit meinen Erinnerungen war. Irgendwessen Seite war gegen meinen Rücken gepresst und sog die fiebrige Hitze aus meinem Körper. Mit einem tiefen Ausatmen entspannte ich mich und ließ mich hineinsinken. Das langsame Atmen, das leise Rascheln und Wanken der Matratze, wenn sich jemand bewegte, das Gewicht der Decken, die Kühle der Drillinge. Langsam wurde der Strudel in meinem Verstand leiser, bis es nur noch ein Hintergrundrauschen war. Was mit Yui passiert war, konnte ich auch morgen noch herausfinden. Selbst Ayato entspannte sich langsam, Laito war längst eingeschlafen und als ich ein Auge öffnete, sah Kanato äußerst zufrieden mit sich aus. Mit einem Lächeln schlief ich ein. Ob morgen jemand blaue Flecken haben würde? Oder schliefen sie wie die Toten?
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Old Blood
FanfictionAllein und verfolgt sucht Sayoko Zuflucht im Anwesen der Sakamaki-Brüder. Wird sie dort endlich die Atempause bekommen, die sie so unbedingt braucht und vielleicht sogar ihre Macht zurückerlangen, oder wird der Tod ihr auch dorthin folgen? Die Recht...