16. Kapitel

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Es war schummrig und kalt im Zimmer. Shu lag auf meinem Bett, als ich eintrat. Die Augen geschlossen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Neben ihm lag mein Buch, das ich gestern angefangen hatte. Ich schlang die Arme um meinem Körper und starrte es eine Weile an, dann wandte ich mich ab, überlegte es mir anders und drehte mich wieder zurück. Was sollte ich anderes machen? Ich wollte etwas machen, um nicht hilflos in dem Strudel in meinem Kopf hängenzubleiben. Zurück war das rastlose Sirren unter meiner Haut. Mein Blick fiel auf den kleinen Klamottenstapel auf einem Stuhl und ich hob ihn auf, um ihn in meine Kommode zu räumen, blieb aber mit der Hand an der Schublade stehen. Starrte ein paar Sekunden das Holz an. Dann ließ ich den Stapel wieder auf den Stuhl fallen und starrte das Buch an. Diesmal von der anderen Seite. Es sah immer noch genauso uneinladend aus wie eine halbe Minute zuvor. Ich seufzte, nahm das Buch und ließ die Seiten lustlos über meine Finger rutschen. Buchstaben flatterten unter meinen Augen vorbei, zu schnell, um Wörter zu formen, zu uninteressant, um mich zu beschäftigen.
"Hör auf mit dem Lärm." Mein Mundwinkel zuckte amüsiert.
"Kauf mir so'n elektronisches Leseding." Ich warf das Buch zur Seite und krabbelte aufs Bett. "Oder mach deine Musik lauter." Bevor ich mit dem Gesicht zuerst in mein Kissen fallen konnte, wurde ich zur Seite gezogen und landete an Shus Seite. Wenig überrascht öffnete ich ein Auge.
Shu begegnete meinem Blick und mit einem Mal löste sich jeder Gedanke in meinem Kopf auf. Seine Finger glitten unter meinen Kragen und schoben das Oberteil zur Seite. Das Sirren unter meiner Haut verschwand und machte Platz für etwas anderes. Dunkelblaue Augen lösten ihren Blick, eiskalte Lippen streiften meine Wange, meinen Kiefer, meinen Hals und blieben auf meinem Puls liegen. Ich schauderte, als er zubiss. Die Muskeln in meinen Schultern reagierten aus Reflex und verkrampften sich in Erwartung eines Schmerzes, der nicht kam. Es tat weh, aber nicht so sehr wie die letzten Male und Shu schien es auch zu bemerken, denn im nächsten Moment biss er fester zu. Seine Zähne gruben sich tief in meinen Hals und Schmerz brodelte auf. Ich atmete aus und fischte nach dem Buch hinter mir, verdrängte das eigenartige Gefühl in meiner Brust und ignorierte den Geruch nach Rauch, der mir in die Nase stieg. Ich wollte nicht wieder in der Vergangenheit landen.
"Warum belästigst du niemand anderen?"
Shu war schneller und das Buch fiel mit dumpfem Schlag zu Boden. Eigentlich trinken alle weniger – nur Shu trinkt jetzt viel mehr, hatte Yui gesagt.
"Ich mag Essen nicht, das zu süß ist. Außerdem hat dein Blut etwas an sich... Es trägt etwas in sich... Es ist überwältigend." Seine Hand legte sich in meinen Nacken und er zog mich näher. "Ich habe keine Verpflichtungen oder Interessen. Übernimm die Verantwortung, denn du bist es, die mich erweckt hat." Als hätte er Blut geleckt – 'haha' – waren seine Schlucke jetzt größer, gieriger. Genau wie im Musikzimmer. Wieder blieb seine alles beherrschende Ruhe. Wieder war da das warme Pulsieren, das sich langsam ausbreitete. Er rollte sich über mich und sein Gewicht drückte mich tiefer in die Matratze und die Villa verblasste. Mit jedem seiner Schlucke fielen meine Augen weiter zu und ich hätte es nur allzu gerne auf den Blutverlust geschoben, aber er hatte bei weitem nicht so viel getrunken. Es war eine andere Art von Trägheit, die mich überwältigte. Bevor ich sie vollständig einordnen konnte, löste Shu sich bereits wieder von meinem Hals, sank zurück auf den Rücken und gab mir etwas Neues zu denken.
"Shu", murmelte ich. Er antwortete nicht, aber ich wusste, dass er zuhörte. Seine Hand lag noch immer an meinem Nacken, auch wenn er mich nicht mehr hielt. "Shu, dein Ärmel ist nass. Das fühlt sich eklig an." Und es saugte die ganze Wärme aus mir.
"Zieh es mir aus, wenn es dich so stört. Immerhin ist es deine Schuld, dass ich nass bin." Ich brummte. Mein Mitleid hielt sich stark in Grenzen, schließlich war es seine Entscheidung gewesen. Das warum, wüsste ich allerdings gerne. Ein paar Sekunden starrte ich regungslos an meine Tapete mit winzigem Blättermuster – 'das kann nicht nur Paranoia sein' – und überlegte, wie sehr der nasse Ärmel mich störte. Nicht genug.
"Ich hab' keine Lust etwas zu tun." Shu entwich ein amüsiertes Geräusch.
"Gut gesagt." Die nächsten Minuten beobachtete ich die kleinen Schattenpunkte, die durch einen dünnen Lichtstreifen glitten, jedes Mal, wenn der Wind die Äste draußen vor dem Fenster bewegte. Die blass rot-orange Farbe sagte mir, dass die Sonne bald aufging.
"Dein Herz schlägt stark." Als Shu die Hand hob, dachte ich zuerst er wollte aufstehen, weil er sich an der Lautstärke meines Herzschlags störte, aber er drückte bloß einen der Knöpfe auf seinem MP3 Player und die Musik verstummte. Ich wusste nicht, ob er sie wirklich ausgeschaltet hatte oder nur leiser, aber ich konnte sie nicht mehr hören. Ohne darüber nachzudenken, drehte ich mich und streckte mich an seiner Seite aus und lehnte meine Stirn gegen seinen Brustkorb. Durch die Bewegung lag auch sein nasser Ärmel nicht mehr auf meiner nackten Haut und langsam wurde mein Frieren weniger. Wäre er ein Mensch, würde ich jetzt sein Herz schlagen hören. Die Nase vergrub ich in meinem eigenen Oberteil und atmete tief den Geruch der Seife ein, um die Illusion von Rauch zu vertreiben. Es funktionierte nur bedingt und ich schob es auf meinen Zustand und konzentrierte mich lieber auf Shu. Seine Gegenwart sog mich in eine Ruhe innerhalb meines Körpers, in der ich mich treiben lassen konnte. Kurz bevor ich einschlief, murmelte er: "Ich habe noch nie so ein Verlangen nach Blut gespürt. Was bist du?"

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