In der nächsten Nacht tauchte Kanato bei einer meiner Erkundungstouren durch die Villa auf. Ich war am Nachmittag vorher irgendwann erschöpft eingeschlafen. Es war nicht das erste Mal gewesen und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal, dass ich solche Albträume hatte. Trotzdem hätte ich mich am liebsten wieder ins Bett gelegt und die Decke über den Kopf gezogen. So sehr es mich mitnahm, so erinnerte es mich daran, dass ich es anders wollte und das erreichte ich nicht, indem ich nichts änderte. Also fing ich bei mir an und war dennoch aufgestanden. Die negativen Gefühle waren bereits eine Verbesserung zum Nichts. Und die Wut. Wie lange hatte ich keine Wut mehr empfunden? Die Erinnerung begann bereits zu verblassen, obwohl es erst gestern gewesen war, aber sie war da gewesen und was einmal kam, konnte ich wiederholen. Kanato führte mich durch die Gänge der Villa bis hinunter in den Keller. Er warf einen Blick über die Schulter, dann öffnete er die Tür. Aufgereiht an den Wänden standen Mädchen in Hochzeitskleidern. Wäre da nicht der leichte, aber allgegenwärtige Geruch von Tod, hätte man sie für Wachsfiguren halten können. Ich wollte nicht zu genau darüber nachdenken, woher die toten Körper stammten und warum sie tot waren. Mit einem unterdrückten Gähnen trat ich näher heran. Glücklicherweise machte es Schlafmangel ausgesprochen leicht, nicht rational zu denken und so bewunderte ich stattdessen das handwerkliche Geschick, mit dem sie hergerichtet worden waren. Wie schützte er sie vor Verwesung? Ich schaute über die Schulter zu ihm zurück. Er stand mit Teddy an die Brust gedrückt hinter mir und beobachtete mich stumm. Ich griff nach einem der Kleider. Der weiße Stoff glitt seidig und kühl über meine Finger, als ich ihn berührte. Meine Alltagskleidung konnte ich flicken und mir problemlos behelfen, selbst wenn nicht das richtige Werkzeug zur Hand war, aber für so etwas Feines fehlte mir die Geduld und Motivation. Ich begann Kanatos Präsenz überdeutlich in meinem Rücken zu spüren, also richtete ich mich wieder auf und ließ den Stoff los.
"Dir gefallen meine Wachsfiguren?" Er klang überrascht. "Teddy freut sich immer, wenn wir herkommen. Aber Yui findet sie unheimlich."
"Wie hast du es geschafft, dass sie nicht verwesen?", fragte ich, als mir ein unerfreulicher Gedanke kam. Mit genügend Macht – die sein Vater hatte – oder schlauem Vorgehen - was ich bezweifelte - würde es kein großes Aufsehen erregen, wenn sie hier in Japan verschwanden. "Wie alt sind sie?" Kanato legte den Kopf schief und starrte mich an. Das unangenehme Gefühl, nicht verschwinden zu können, ließ meine Finger vor Unruhe zucken. Gestern war es noch nicht da gewesen. Gestern hatte er mich nicht angeschaut, als würde er mich wirklich sehen. Es war mir nicht aufgefallen, weil ich es gewohnt war, dafür war das Gefühl jetzt umso beunruhigender. 'Es geht keine aktive Bedrohung von ihm aus', erinnerte ich mich und schüttelte das Unwohlsein ab. Bevor Kanato antworten konnte, schlug die Tür mit lautem Scheppern gegen die Wand. Wir fuhren gleichzeitig herum. Subaru stand im Türrahmen.
"Monatliches Dinner." Damit verschwand er wieder. Ich schob mich mit einem Nicken an Kanato vorbei und eilte die Treppe nach oben. Am Treppenabsatz stieß ich beinahe mit Ayato zusammen, der mich abschätzig anstarrte.
"Tch. Entschuldige dich bei Ore-sama."
"Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Ayato-san." Es schwang kein Sarkasmus mit, aber ebenso wenig Reue.
"Sama."
"Was?" Ayato grinste überheblich, sodass seine spitzen Eckzähne aufblitzen. Pure Absicht. Ein Versuch mich einzuschüchtern. Ich schob mich an ihm vorbei ins Esszimmer. Alle außer Reiji waren da. Ich konnte seine Stimme aus der Küche hören, wo er wahrscheinlich einen der Bediensteten runterputzte. Ayato stieß die Tür auf, die ich hinter mir zugestoßen hatte und machte einen bedrohlichen Schritt auf mich zu.
"Das ist Ayato-sama für dich." Ich hob amüsiert eine Augenbraue. Es war einer der Titel, den ich früher selbst getragen hatte, vielleicht heute noch tragen würde, würden sich mehr an mich erinnern. Mit Schalk in den Augen deutete ich eine Verbeugung an.
"Natürlich, Ayato-sama." Ich drehte ihm den Rücken zu, bemerkte noch Ayatos perplexen Gesichtsausdruck und stellte zufrieden fest, dass alle im Raum zuhörten, bevor ich mich auf einen der Stühle setzte. Ayato knurrte aufgebracht und ich konnte seine Wut gegen meinen Rücken branden spüren. Ich badete in der Genugtuung, wie schnell er sich auf die Palme bringen ließ.
"Was-" Die Tür schwang auf, bevor wir erfuhren, was er zu sagen hatte.
"Ich will heute Abend keinen Streit. Setz dich hin, Ayato." Ayato öffnete den Mund, aber Reiji brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Ich konnte und wollte mir ein kurzes, schadenfrohes Grinsen in seine Richtung nicht verkneifen. Ayato erwiderte es mit einem mörderischen Funkeln in den Augen. 'Haha.'Der Fensterrahmen knarrte leise, als ich es öffnete und einen letzten Blick über die Schulter warf. Mein eigenes Fenster war vergittert und Shu lag unten auf einem der Sofas, also benutzte ich das in seinem Zimmer. Mein Blick blieb am Bett hängen. Die helle Daunendecke sah aus, als könnte man darin versinken und es wäre so leicht, sich auf die Matratze fallen zu lassen und einzurollen und zu schlafen und auf unbestimmte Zeit liegen zu bleiben. Und das Fenstersims wirkte auf einmal anstrengend hoch. Ich kämpfte noch einige Sekunden mit mir, dann schüttelte ich den Kopf und zog mich auf das Sims. 'Nicht aufhören.' Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fanden meine Finger Halt zwischen den Steinen der rauen Außenwand und ich begann zu klettern. In der Hälfte dachte ich, dass es in einer anderen Form einfacher gewesen wäre. Ich schaute nach oben. Am Himmel kündeten dunkle Wolken von einem Gewitter. Ich konnte immer noch zurück und mich in meinem Bett vergraben. Das Buch, das ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, lag noch am Fußende. Dass es nicht besonders interessant war, spielte jetzt keine Rolle. Es war ein Grund doch nicht zu gehen.
Plötzlich berührten meine Füße den Boden und ehe ich mich versah, stand ich am Waldrand. Mein Körper hatte übernommen, während ich mir noch Argumente überlegte. Jetzt, wo ich so nah an den Bäumen stand und die Villa so weit hinter mir lag, war der Sog eines Bettes weniger stark. Der Wind spielte mit meinen Haaren, lockte mich tiefer in den Wald. Das Mondlicht brachte die Kronen zum Leuchten, aber die Schatten zwischen ihnen verschluckten alles, was ihnen zu nahe kam. Ein kleiner, leicht zu übersehender Hinweis, der mir verriet, dass dieser Wald Spuren der Dämonenwelt in sich trug. Kein Wunder, dass der Vampirkönig hier die Villa errichtet hatte. Die Blätter rauschten und die Äste streckten sich wie knorrige Finger nach mir, bevor der Wind sie wieder in die andere Richtung bog. Ich ließ mich in den Sog fallen und atmete tief den feuchtkühlen Geruch des Waldes ein. Tannennadeln, Holz, nasses Gras, Laub. Es ließ meine Fingerspitzen kribbeln und vertrieb jeglichen Gedanken an Betten. Die Schatten kamen näher mit jedem Schritt den ich tat. Sie waren nur ein feiner Schleier, der den Blick auf die Kreaturen dahinter verbarg und doch sahen sie aus, als könnte man hineinfallen. Tief. Wie Hände, die ihre Finger ausstreckten, um jeden, der so töricht war, ihnen zu nahe zu kommen, weit hinab in die alles verschluckende Schwärze zu ziehen. Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und hieß sie willkommen. Ich zog Energie aus ihrer Berührung.
Das erste Knacken schnitt durch das Rauschen der Blätter, dann wurde der Wind stärker, riss selbst zwischen den Bäumen an meiner Kleidung und machte es unmöglich, etwas anderes zu hören. Meine Knochen verschoben sich, die Kleider wurden zu glattem, schwarzen Pelz, der mit den Schatten verschmolz und im nächsten Moment bohrten sich meine Krallen tief in den weichen Waldboden. Mein Körper erzitterte von der Kraft und Energie, die ihn durchströmte. Sie wollten genutzt werden. 'Endlich.'
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Old Blood
FanfictionAllein und verfolgt sucht Sayoko Zuflucht im Anwesen der Sakamaki-Brüder. Wird sie dort endlich die Atempause bekommen, die sie so unbedingt braucht und vielleicht sogar ihre Macht zurückerlangen, oder wird der Tod ihr auch dorthin folgen? Die Recht...