23. Kapitel

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Eine große lila Flammenwand loderte vor ihnen auf und schnitt den Weg ab. Sie zerrte sie in die andere Richtung. Rauch kratze in ihrem Hals. Der Raum drehte sich und sie hatte Schwierigkeiten auf den Beinen zu bleiben. Die Frau packte sie an den Schultern und starrte sie an. Ihr Gesicht war rußverschmiert, ihre Haare angesenkt und verklebt. Überall um sie herum tobten die lila Flammen.
"Lauf in den Wald. Versteck dich bis sie deine Fährte verlieren." Sie wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt. "Hast du verstanden?" Tränen liefen über Sayokos Wangen und zogen helle Linien in ihr rußverschmiertes Gesicht.
"Aber was ist mit eu-" Die Frau schüttelte sie und schrie sie an: "Hast du verstanden?" Sayoko zuckte zurück und nickte. Natürlich verstand sie. Es war das, was sie seit Jahren tat. Sie schubste sie nach hinten. Das Mädchen stolperte und fiel. Vor ihr stürzte ein brennender Balken zu Boden und Funken stoben durch die Luft. Ihr Gesicht verschwand hinter lila Flammen. Hustend stolperte Sayoko auf die Füße. "Wir gehen vorne raus."
"Nein! Sie werden euch töten." Sie musste die Arme schützend vors Gesicht halten, um länger stehen zu bleiben, aber es kam keine Antwort mehr. Die Hitze trieb ihr Tränen in die Augen und ihre Hose fing Feuer, als sie sich durch die Fensterscheibe warf. Glassplitter schnitten in ihre Haut und ihre Schulter knackte, als sie auf dem Boden aufschlug. Zitternd kam sie auf die Füße und rannte stolpernd zum Waldrand. Das feuchte Gras war glitschig unter ihren nackten Sohlen, als sie den Hügel hinaufstoplerte und mit einem dunkelhaarigen Jungen zusammenstieß. Er stand reglos dort, umklammerte einen verkohlten Holzstab und starrte auf das Dorf, das unaufhaltsam von orangen Flammen und schwarzem Rauch verschluckt wurde. Panik und Schmerz brannten in ihrer Brust mit dem Rauch um die Wette. Die Flammen spiegelten sich in seiner Brille.
"Da ist sie!" Sayokos Herz setzte einen Schlag aus. Die Jäger. Kurz bevor sie zwischen den schützenden Bäumen verschwand, schaute ein letztes Mal auf das Dorf zurück. Sie musste. Der Himmel senkte sich in einer schwarzen Wolke und begrub das Dorf unter sich. Nur wenige kamen aus dem orangen Flammenmeer. Alle drehte sich und ihr Kopf pulsierte vor Schmerz. "Es tut mir leid." Dann drehte sie sich um und rannte. Die Schreie verfolgten sie bis tief in den Wald.

Der bittere Geschmack in Mund und Rachen kam zuerst. Die fiebrige Hitze und die eisige Kälte als nächstes. Es war dunkel und ich war müde. Mein Körper schmerzte, mein Kopf pulsierte. Als nächstes roch ich den zarten Duft von Zuckerwatte. Es war ein harter Kontrast zu der kalten, rauen Steinplatte unter mir. Mühsam zwang ich meine Augen auf. Der Keller war dunkler, als ich in Erinnerung hatte. Ich konnte kaum etwas erkennen. Als ich den Kopf drehte, überschlug sich der Raum und der Schmerz hinter meinen Augen explodierte. Ich konnte sie nur zusammenzukneifen, atmen und warten, bis es vorbei war. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.
Es war seine Schuld. Er war dort gewesen. Ich war durch die Erinnerungen meines ganzen Lebens geflimmert. Er war Schuld an Edgars Tod und dem vieler anderer. Ich hatte endlich begriffen was falsch gewesen war. Das Feuer, das das Dorf verbrannt hatte, war orange gewesen. Das Feuer, das die Jäger gelegt hatten, war lila. Der kleine Junge hatte das Dorf niedergebrannt. Reiji hatte es niedergebrannt. Mit zusammengebissenen Zähnen richtete ich mich auf. Kanato stand reglos mitten im Raum und starrte mich mit offenem Mund an. Das Messer in seiner Hand fiel klirrend zu Boden.
"Du-" Ich schnitt ihm das Wort ab.
"Welcher Mond?" Was hatte er mit dem Messer vorgehabt?
"Was?"
"Welcher Mond?"
"Vollmond. Shu sagte, es gibt eine simultane-"
"Die Mondfinsternis. Die gottverdammte Mondfinsternis." Ich rieb mir durchs Gesicht. Meine Finger gehorchten noch immer nicht vollständig. Verdammtes Glück. Es gab eine Möglichkeit die gewählte Schwäche zu überleben. Eine und die war verdammt winzig und selten. Die Mondfinsternis, die simultan in Dämonen- und Menschenwelt auftrat, konnte es fertigbringen jemanden wie mich vor dem Tod zu bewahren. Bewahren, nicht zurückholen. Offensichtlich hatte die Mondfinsternis genau in dem Augenblick begonnen, kurz bevor mein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Statt in den Tod, war ich in eine Zwischenwelt gerutscht, bis mein Körper den Schaden repariert hatte. Die simultane Mondfinsternis erklärte auch alles andere: Die Hitze- und Kälteschübe, die Unruhe. Den Fakt, dass ich Blut nicht nur hören, sondern auch hatte sehen, fühlen und schmecken können. Die plötzliche Lichtempfindlichkeit und die Starre meiner Muskeln, wenn mir zu kalt gewesen war.
"Was ist passiert? Reiji-" Mein Kopf schnellte hoch. Kanato verstummte sofort und zog die Schultern an. Reiji hatte mich vergiftet. Er hatte versucht mich zu töten. Ich hatte ihnen vertraut. Ich hätte es besser wissen müssen – Nein. Ich hatte es besser gewusst und mich dazu entschieden es zu ignorieren. Es war Leichtsinn gewesen, keine Blindheit. Ich hatte meine Vorsicht fallen- und sie alle zu nah an mich heran gelassen. Ich hatte begonnen die Villa als mein zu betrachten. Mir wurde übel. Die Kälte kam zurück und fraß sich in meine Brust und schnürte mir den Hals zu. 'Nicht schon wieder.' Die Resignation und Kraftlosigkeit des Gedanken, machten mir mehr Angst, als die Gewissheit, dass etwas schiefgegangen war. Ich wollte nicht wieder dorthin abrutschen, egal was passiert war, also konzentrierte ich mich auf die Wut. Dass sie hier war, bedeutete, dass ich noch nicht zurückgefallen war. Ich griff nach ihr und tauchte hinein, bis ihre Hitze mich ausfüllte und mein Blut zum Kochen brachte. Sie hatten versucht mich umzubringen. Es war ihre Schuld. Beim Aufstehen trat ich das Messer unter eins von Kanatos Podesten, auf denen ihre alten Opferbräute standen. Die Wut trieb das Gift schneller aus meinem System.
Die Tür zum Wohnzimmer flog auf.
"Reiji!" Er kam.
"Du lebst?"
"Enttäuscht?" Ich packte seinen Kragen. Er sah überrascht aus, nicht besorgt. 'Gleich.' Seine Beine gaben unter dem plötzlichen Druck nach. Etwas splitterte – seine Knie oder eine der Bodenplatten. Wirbel knackten unter meinen Fingern. Noch brachen sie nicht. Jetzt stand Schock in seinen Augen. Er vermischte sich mit der Spiegelung der Flammen vom Kamin neben uns. Ein wenig mehr Druck und sie gaben nach. Ein wenig mehr Druck und sie zersplitterten unter meinen Fingern. Ein wenig mehr Druck und ich hörte wie das Leben ihn verließ. Er wand sich, aber es war zwecklos. Erneut quoll kaltes Blut über meine Hände und diesmal war es nicht meins. Mit jeder Bewegung schnitten meine Fingernägel tiefer in seine Haut und das Blut wurde mehr. Ein wenig mehr und es färbte Stoff. Ein wenig mehr und es bildete eine Pfütze am Boden. Ein wenig mehr – alles, was ich tun musste, war ein wenig mehr Kraft hineinzulegen. Reiji hörte auf sich zu bewegen. Er hatte sie gesehen. Er hatte gesehen, wie die Mordlust in mir brodelte. Das mächtige Verlangen nach dem Rausch der Macht und seinem Tod. Der Durst nach Blut. Er kämpfte darum, sein Gesicht ausdruckslos zu halten. Das war es gewesen, worauf ich an dem Tag ausgewesen war, an dem Shu zum ersten Mal mein Blut getrunken hatte, doch statt kindlicher Schadenfreude, bereitete es mir grausame Genugtuung. Zu sehen, wie er versuchte die Panik in seinen Augen zu verstecken. Es musste erniedrigend sein, so machtlos auf dem Boden zu knien, ohne Verständnis dafür zu haben, was passierte. Die anderen fünf tauchten hinter mir auf.
"Redet. Ich will Antworten und wenn ich sie nicht bekomme, wird er als erster sterben." Es war mir egal, wer redete, solange ich meine Antworten bekam.
Kanato sprach als erster: "Auch wenn du ihn tötest, wirst du von uns nichts bekommen." Ich trat auf den Schürhaken, fing ihn aus der Luft und schleuderte ihn. Er bohrte sich sauber in Teddys Auge. Kanato schrie auf. Es war ein Schrei voller Schmerz und Wut und es tat mir im Herzen weh, das zu hören. Ich blendete es aus. Es war nur ein Stofftier. Meine Stimme blieb kalt.
"Wenn er dich nicht kümmert, nehme ich etwas anderes. Sprecht." Shu trat vor und zog Kanato hinter sich und schob ihn hinter seinem Rücken zu Ayato und Laito. Auch in ihren Augen stand der Schock. Ich drehte mich, sodass ich ihn im Auge behalten konnte und drückte Reijis Kopf näher an den Kamin, näher an die lodernden Flammen.
"Steh mir im Weg und du bist der nächste." Die Sehnen unter Reijis Haut spannten sich, aber er konnte nichts tun, außer ein ersticktes Geräusch von sich zu geben. Die Brille auf seiner Nase verrutschte und mit ihr der kümmerliche Rest seiner Maske, die die Angst hatte überspielen sollen. An ihre Stelle trat die Erkenntnis seiner Machtlosigkeit. Ein wahrhaft erfüllender Anblick.
"Sie werden nichts verraten, weil sie nichts wissen." Ich blinzelte und riss mich von dem Anblick vor meinen Füßen los. Ihr Vater sollte ihnen nichts zu mir gesagt haben? Es sollte Zufall sein, dass Reiji in der Nacht dort gewesen war? Es sollte Zufall sein, dass er mich vergiftet hatte? Sechs Vampire und Söhne des Dämonenkönigs sollten nichts darüber wissen, wer ich war? Ich glaubte ihm nicht.
"Was hat euer Vater euch gesagt?"
"Er hat mir per Post mitgeteilt, dass jemand mit deinem Namen kommen und es nach Yui einen neuen Gast geben wird, den wir mit Respekt behandeln sollen. Das gleiche, was er mir ein paar Tage vor ihrer Ankunft mitgeteilt hat. Und natürlich, dass wir nicht versuchen sollen den Gast zu töten." Er hatte sich also wirklich angemaßt, mich als neue Opferbraut anzukündigen. "Bei genauerer Überlegung, liegt die Betonung auf 'versuchen'." Dabei ergab es keinen Sinn, denn es war etwas, dass logischerweise direkt bei meiner Ankunft aufgeklärt worden wäre. Hatte er mein Verhalten mit in seine Pläne einbezogen? Aber wozu? Nichts ergab einen Sinn. Darüber nachzudenken brachte keinen Sinn. Zur Hölle mit Plänen. Sie waren sowieso nie meine Leidenschaft gewesen. Ich wandte mich zurück an Reiji. Wie viel Hitze brauchte es, bis die Haut eines Vampirs ihre Blässe verlor? Eine Frage, die ich nur allzu gern austestete, wenn ich nicht bald mehr Antworten bekam.
"Was hattest du mit meinem Dorf zu schaffen?"
"Welches Dorf?" Reijis Stimme klang erstickt, mühsam.
"Das, das du angezündet hast." Ich lockerte meinen Griff gerade genug, dass ich ihn ohne Anstrengung verstehen konnte. "Oder zündest du häufiger zum Spaß Sachen an? Violinen, Dörfer-"
"Violine? Welche soll das gewesen sein?"
"Meine." Reijis Blick flog zu Shu. Er war keinen Schritt näher gekommen. Gut.
"Was redest du für einen Unsinn? Ich habe deine dämliche Violine nicht kaputt gemacht."
"Wer soll es sonst gewesen sein?" Ein Zittern der Wut lief durch Reiji.
"Woher soll ich das wissen? Ich bin überrascht, dass es dir überhaupt aufgefallen ist, wo du die meiste Zeit doch faul im Weg liegst, statt deine Pflichten zu erfüllen."
"Gleich streitest du noch ab, dass du versucht hast ihn zu töten." Wo Reijis Stimme sich überschlug, war Shus von einer schneidenden Ruhe erfüllt.
"Wer hätte ahnen können, dass du danach noch verantwortungsloser wirst?"
"Edgar hatte nichts mit deinen Minderwertigkeitskomplexen zu tun."
"Ich ha-" Ich schnitt ihm das Wort ab.
"Du kennst Edgar?" Shu murmelte etwas, aber ich ignorierte es.
"Wer ist Edgar?", warf Ayato plötzlich dazwischen. Er hatte Kanato im Arm. "Um was zur Hölle gehts hier?"
"Halt dich raus." Shu und ich tauschten einen Blick, da wir gleichzeitig gesprochen hatten und meine Mauer an Wut bekam einen Riss. Ich ließ sie wieder aufkochen und wandte ich mich an den Vampir, der vor mir auf dem Boden kniete. Bei der Bewegung geriet er näher ans Feuer und der Geruch von angesengten Haaren, fraß sich durch den Raum.
"Du behauptest, dass du mein Dorf angezündet hast, hatte nichts mit mir zu tun?"
"Von welchem Dorf redest du?" Seine Stimme brach und er sog angestrengt Luft ein. "Ich habe ein mickriges Dorf angezündet – eins! Ob ihr es glaubt oder nicht, ich bin nicht der Pyromane des Hauses. Ich wusste bis zu diesem Jahr überhaupt nicht von dir!" 'Oh doch. Du wusstest nur nicht, dass ich es bin.' Ich schaute zu Shu. Gleich streitest du noch ab, dass du versucht hast ihn zu töten.
"Versucht?"
"Edgar ist nicht tot. Nicht ganz." 'Nicht ganz?'
"Sprich weiter."
"Ich habe es selbst erst vor Kurzem erfahren. Nachdem er ins Feuer gelaufen ist, dachte ich auch er sei tot, bis sie das Auto in die Luft gesprengt haben." 'Sie? Wann?' "Ich bin ihm in der Schule begegnet, aber er erinnert sich nicht." Mein Kopf drehte sich.
"Wie kann es sein, dass er noch lebt? Zu viel Zeit ist vergangen."
"Er ist jetzt ein Halbvampir." Abschätzig blickte ich auf Reiji herab. Wusste er wirklich nichts? Erbärmlich.
"Und du willst Oberhaupt der Familie sein?" Sein Blick richtete sich auf Shu. Offensichtlich etwas, das zwischen ihnen stand. "Kannst du keine einfache Frage beantworten?" Reiji löste den Blick nicht von Shu, presste aber zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus: "Ich will ein gutes Oberhaupt für die Familie." Es war keine Antwort, mit der ich etwas anfangen konnte, Shu scheinbar schon, denn er wandte mit einem Schnauben den Kopf. Reijis Blick richtete sich auf mich. Es lag etwas Flehendes darin. Nur ein vernichtend kleiner Teil von mir hatte etwas dagegen, das Genick unter meinen Fingern wie einen trockenen Ast zu zerbrechen und selbst der würde das Fehlen des wunderbaren Knackens bedauern, wenn sich die Knochensplitter unwiderruflich gegeneinander verschoben. Das Schicksal hatte er sich bereits mit dem Versuch meiner Vergiftung verdient.

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