1, Dezember

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Wochenende. Endlich!
Zu Hause akzeptiert man mich, hier liebt man mich und hier kann ich sein, wie ich bin, muss keine Angst haben.
Gestern musste ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Rick Möbel kaufen fahren, denn er bekommt zu Weihnachten eine neue Kinderzimmereinrichtung. Heute sind sie dabei, die Möbel schon aufzubauen, und ich habe nun wenigstens den Sonntag für mich. Ricks Zimmer liegt direkt gegenüber von meinem, und ich höre, wie meine Mom sich über die Aufbauanleitung aufregt, und mein Dad sie zu beruhigen versucht.
Und ich versuche gerade, mich selbst zu beruhigen, denn meine Gedanken schweifen immer wieder in Richtung Schule. Besser gesagt, das ist alles, woran ich gerade denken kann. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken, wenn mir einfällt, dass es morgen wieder weitergeht.

Ich kenne den Ablauf längst auswendig: Ich werde wieder ein falsches Wort sagen oder irgendetwas anderes nicht zur Zufriedenheit meiner Klassenkameraden machen und alle werden wieder lauthals lachen und mir Schimpfwörter entgegen brüllen und ich werde mich wieder hinter meinen Haaren verstecken und so tun, als würde ich sie nicht hören. Nora wird wieder versuchen, mir gut zuzureden. Das macht sie immer. Sie wird wieder meine Hand nehmen und ganz fest drücken. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Auch, wenn es nicht viel hilft. Meistens bleibt mir keine andere Möglichkeit, als es auszuhalten und innerlich zu weinen. Keiner von denen soll jemals meine Tränen sehen.

Als das alles angefangen hat, war ich so schockiert, dass ich erst einmal drei Wochen nicht zur Schule gegangen bin. Entweder habe ich beim Arzt ein Leiden vorgetäuscht oder geschwänzt. Bei den schlechten Noten sind meine unentschuldigten Fehltage auch egal. Meine Eltern haben das Schwänzen nie mitbekommen. Meistens habe ich mich in der Stadt herumgetrieben oder mich in die letzte Ecke der alten Stadtbibliothek verkrochen und mich einem Buch hingegeben. Zwischen all den staubigen Büchern und Neonröhren habe ich mich immer wohl und sicher gefühlt. Manchmal habe ich auch gewartet, bis Mom und Dad zur Arbeit gefahren sind, und bin dann wieder ins Haus gegangen.
Ich hätte meine Methoden wohl noch länger so beibehalten, hätte Nora nicht auf mich eingeredet, ich solle wieder zum Unterricht kommen. Ich bin so froh, sie zu haben. Ohne sie würde ich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr am Unterricht teilnehmen.

Und seitdem mich meine Mitschüler so stark mobben, leide ich regelmäßig an Panikattacken. Meistens beginnt es schon, wenn ich mich auf den Weg zur Schule mache. Dann wird es ganz eng in meinem Hals und ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Mein Herz rast und ich bekomme kalte Schweißausbrüche. Oft habe ich auch das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Dann engt sich mein Sichtfeld bis auf einen kleinen Kreis ein und wird von einem dicken schwarzen Rand umgeben. Meine Hände fangen an zu zittern und schnell auch mein ganzer Körper.

Bisher weiß nur Nora davon. Im Unterricht kann ich es meistens überspielen, wenn mich wieder die Panik überfällt. Dann tippe ich mit dem Finger oder dem Bein oder ich versuche, mich auf die Seiten im Schulbuch zu konzentrieren. Im Internet habe ich schon von verschiedenen Strategien gelesen, wie man sich bei einer Panikattacke verhalten kann. Man kann zum Beispiel in Gedanken fünf Dinge aufzählen, die man sieht, die man hört, die man fühlt und so weiter. Oder man atmet vier Sekunden ein, hält die Luft für fünf Sekunden an und atmet dann sechs Sekunden lang aus. Aber manchmal hilft das alles nicht. Dann hält Nora meistens unter dem Tisch meine Hand.

Mrs. Woods ist eine der wenigen Lehrkräfte, die das Treiben meiner Mitschüler nicht einfach wortlos hinnehmen, sondern etwas dagegen sagen. Oder es zumindest versuchen. So oft hat sie Elterngespräche durchgeführt und einen nach dem anderen zum Nachsitzen geschickt, aber es hat alles nichts genützt. Sie hören nicht auf, werden es wohl auch nie. Nach den Prüfungen ziehe ich so weit weg, wie es geht, oder nehme eine andere Identität an, und dann fange ich von vorn an. Wie schön das wäre...

Jedenfalls wird Mrs. Woods ab morgen nicht mehr da sein und an ihre Stelle wird jemand anderes treten, der sich vermutlich herzlich wenig darum kümmern wird, wie seine Schüler miteinander umgehen. Zumal man einer Gruppe 17- bis 19-Jährigen durchaus zutrauen könnte, dass sie sich höflich und tolerant zu verhalten wissen.
Theoretisch.
Wenn der neue Lehrer da ist - und ich lege nicht sehr viel Hoffnung in ihn - bin ich tatsächlich auf mich allein gestellt. Aber die paar Monate werde ich dann auch noch aushalten. Letztendlich bleibt mir sowieso nichts anderes übrig.

Montagmorgen, super.
Meine Laune befindet sich bereits eine halbe Stunde nach dem Aufstehen auf dem Tiefpunkt. Lustlos schiebe ich mir einen Löffel Cornflakes in den Mund. Nicht nur, dass ich furchtbar müde bin, immer wieder kommt meine Angst hoch und nistet sich in meinem Kopf ein, wo ich sie unmöglich verdrängen kann.
"Dad, du hast doch heute frei, darf ich den Van nehmen?" Ich sehe meinen Vater an, der in der Tageszeitung stöbert. Zwar habe ich seit knapp einem Jahr meinen Führerschein, aber leider kein eigenes Auto, und so bin ich froh, wenn ich es ab und zu nehmen darf. Sonst muss ich immer mit dem Bus zur Schule fahren.
Er nippt an seiner Kaffeetasse, auf der „Bester Dad der Welt" steht. Die haben Rick und ich ihm mal zu Weihnachten geschenkt.

"Meinetwegen. Aber fahr' vorsichtig!"
Ich stehe auf und lächele ein wenig. "Tu' ich immer. Aber weißt du, was mir noch mehr Fahrpraxis geben würde? Ein eigener Wagen." Und damit bin ich schon aus der Tür.

Heute kommt der neue Lehrer. Er soll wohl nicht wirklich neu sein, sondern schon seit einer ganzen Weile an unserer Schule arbeiten. Ich kenne ihn trotzdem nicht, glaube ich.
Die ersten beiden Stunden haben wir noch nicht mit ihm. Stattdessen haben wir Sport. Ich hasse Sport, generell. Wie üblich sitze ich auf der Bank am Rand der Halle und warte darauf, dass die Zeiger der großen Uhr sich weiterbewegen. Heute habe ich "mein Sportzeug vergessen". Langsam muss ich mir echt neue Ausreden einfallen lassen. Ich weiß, dass Mrs. Smith mir sowieso nicht glaubt, wenn ich ihr sage, dass es mir nicht gut geht oder ich zufällig gerade meine Tage habe. Vielleicht ist es ihr mittlerweile auch einfach egal geworden. Es gibt auch Tage, an denen ich am Sportunterricht teilnehme, dann hole ich alle nötigen Leistungskontrollen nach und schneide mehr oder weniger schlecht ab.
Sport ist das einzige Fach, in dem die anderen mich in Ruhe lassen. Die Mädchen sind selbst unsportlich und ungelenkig und die Jungs sind zu sehr in ihr Herumtoben vertieft, als dass sie sich um mich scheren würden.
Während ich teilnahmslos dasitze, hüpft Nora vor mir herum wie ein junger Hund und versucht, ein paar Körbe zu werfen, was ihr allerdings kaum gelingt. Turnen ist auch nicht gerade ihr Ding, aber das ist ihr egal. Es ist ihr allgemein egal, was andere Menschen von ihr denken. Sie ist hübsch, sie ist schlau und sie hat das nötige Selbstbewusstsein. Ich bin das komplette Gegenteil. Und werde es wohl auch immer bleiben. Vielleicht mag ich sie deswegen so sehr. Weil ich mich hinter ihrer Ausstrahlung verstecken kann.

Es regnet, deshalb verbringen wir die Pause im Klassenraum. Es sitzen noch ein paar andere "Außenseiter" hier, aber niemand von ihnen wird so stark schikaniert wie ich. Manchmal reden wir ein paar Worte miteinander, aber meistens hofft jeder von uns stillschweigend, dass der Tag so schnell wie möglich vorübergeht, ohne dass man in den Fokus der Mitschüler gerät.
"Und, was denkst du, wie der neue Lehrer so ist?" Nora schiebt sich ein Stück Schokolade in den Mund. Sie hält mir die angebrochene Tafel hin, aber ich lehne dankend ab.
"Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht."
"Ich habe gehört, er soll ganz okay sein. Relativ entspannt. Macht sonst eher die Unterstufe, Oberstufe nur vertretungsweise."
Ich glaube nicht, dass er sich sonderlich für die Probleme und Belange seiner Schüler interessieren wird.
Es klingelt zum Unterricht. Mathe mit dem Neuen.
Der Klassenraum füllt sich allmählich und ich packe widerwillig meine Sachen aus. Bei Mrs. Woods waren wir in Mathe bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung stehen geblieben. Besser gesagt, wir hatten sie abgeschlossen und als Letztes sollte nur noch die Prüfungsvorbereitung kommen.
Ich überfliege grob die letzten Seiten im Lehrbuch und sehe aus dem Augenwinkel, wie eine große Gestalt den Raum betritt.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt