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Eine Viertelstunde später habe ich mein Auto einige Straßen von Henrys Wohnung entfernt zum Stehen gebracht und beuge mich über das Lenkrad. Mein Magen will sich jeden Moment entleeren, mein Kopf schmerzt wie verrückt und mein Herz schlägt wie nach einem Marathon-Lauf. Ich glaube, ich sterbe gleich. Mein Brustkorb bebt und ich habe Mühe, meine Gedanken zu ordnen.
Fassen wir die Lage einmal zusammen: Ich wollte Henry besuchen und er wusste genau, dass ich komme. Nun klingele ich an seiner Tür und es öffnet mir nicht er, sondern eine halbnackte, wunderschöne Frau. In seinem Alter. Sie trägt seine Sachen und er kommt gerade aus dem Bad und hat sich schick gemacht. Ihm gegenüber hat sich die Frau sehr lasziv verhalten, sie hat ihn förmlich mit ihren Blicken ausgezogen. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie auf ihn steht. Er hingegen wirkte eher zurückhaltend ihr gegenüber - fast schon abweisend. Sofort, als er mich gesehen hat, hat er meine Nähe gesucht und hat immer wieder beteuert, dass es nicht so sei, wie es aussah. Ich habe ihm eine gescheuert und bin abgehauen. Und jetzt sitze ich hier im Auto und heule die schönen Sitzbezüge nass. Eigentlich gibt es nur eine logische Erklärung für das, was ich gerade gesehen habe: Sie ist seine Frau oder Freundin oder was weiß ich und er hat mir die ganze Zeit etwas vorgespielt. Er hat gelogen und mich nur benutzt. Vielleicht steht er ja darauf, seine Schülerinnen flach zu legen und sie danach fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel. Oder vielleicht wollte er es mal ausprobieren und ich war das Testobjekt. In einer Sache bin ich mir jedenfalls sicher: Er hat mir das Herz gebrochen. Es in die Luft geworfen und zerrissen. Anders herum scheint die Frau mich auch nicht zu kennen, also scheint er sie ebenfalls zu verarschen. Zu gern würde ich ihr erzählen, von welcher Sorte ihr toller Henry ist. Aber sie ist mir unsympathisch. Soll sie ihn behalten und seine Lüge leben. Vielleicht kommt sie ja eines Tages von selbst darauf. Ich wische mir die Tränen vom Gesicht und starte den Motor. Es ist immer noch mein Geburtstag und ich kann ihn immer noch feiern - auch ohne Henry. Gerade als ich losfahren will, zeigt mein Handy eine neue Nachricht an.

Henry, 10.35pm
Erin, tu' nichts Unüberlegtes. Komm' her und ich erkläre dir alles.

Was kümmert es ihn jetzt noch, was ich tue? Schließlich habe ich ihm gesagt, dass wir nicht mehr zusammen sind. Er braucht sich nicht mehr um mich sorgen. Jetzt ist er nur noch mein Lehrer. Wie am Anfang. Von Mr. Jones zu Henry zu Mr. Jones, so einfach ist das.
Wütend schreibe ich eine Antwort.

10.37pm
Lass mich einfach in Ruhe. Ich will dich nie wieder sehen. PS. Schönen Abend mit deiner Freundin.

Ein abgewiesener Anruf von ihm.

Mr. Jones, 10.42pm
Bitte hör' mich an. Ich bin allein hier, es ist niemand mehr da. Denkst du, ich kann dich einfach so gehen lassen?

Dieser Kerl macht mich unglaublich wütend. Auf einmal fühle ich mich wie ein kleines Kind, das seinen Willen nicht bekommt und trotzig wird. Und so antworte ich ihm auch. Er kann ruhig merken, wie sauer ich bin. Die traurige Erin werde ich ihm nicht zeigen.

10.44pm
Mir egal, ich such' mir jetzt nette Gesellschaft für den Abend. Bisschen Spaß auf den Achtzehnten, meinst du nicht auch? Vielleicht nimmt mich ja einer mit zu sich nach Hause. Tschüß dann!

Ich schalte mein Handy aus und steuere auf den nächsten Club zu. Die ganze Wut und die ganze Traurigkeit, dich sich in mir angestaut haben, entfachen in mir den wachsenden Gedanken, mich wie eine Hure zu benehmen und mit dem nächstbesten ins Bett zu springen. Vorausgesetzt, er ekelt sich nicht vor mir wie alle anderen. Zum Glück habe ich schicke Sachen an.

Im Club bahne ich mir als Erstes einen Weg zur Bar, die am anderen Ende des Raumes liegt. Laute Musik dröhnt in meinen Ohren und durch das ständig wechselnde Licht kann ich kaum etwas erkennen. Oh Gott, wie ich Feiern hasse. Eine Weile sitze ich, nippe an meinem Drink und beobachte die Leute. Ich sehe Weiber, die aussehen wie Nutten, wie sie ihre Ärsche an Männern reiben, die garantiert noch grün hinter den Ohren sind. Meiner Meinung nach ist hier einer hässlicher als der andere. Aber vielleicht ist ja doch einer für mich dabei, nur für heute Abend.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Niemand von ihnen sieht aus wie Henry. Eigentlich ist es ja auch besser so, schließlich suche ich hier auf keinen Fall einen Ersatz für Henry.
Da, der da sieht doch gut aus. Meine Augen bleiben an einem Typen hängen. Er steht ein Stück von mir entfernt an einer Wand gelehnt und hält gelangweilt seinen Drink in der Hand. Er scheint ziemlich groß zu seine schwarzen Haare haben exakt dieselbe Farbe wie mein Herz. Damenbegleitung hat er wohl keine. Eigentlich sieht er ja ganz nett aus - wenn man auf Gleichaltrige steht. Ich würde ihn höchstens auf zwanzig schätzen. Aber im Vergleich zu Henry ist er nichts. Eine Weile beobachte ich ihn, um sicher zu stellen, dass er wirklich allein hier ist. Genau wie ich schaut er in die Runde und irgendwann treffen sich unsere Blicke. Ich kann seine Augenfarbe nicht erkennen. Er lächelt mir zu und schaut dann verlegen wieder weg. Vielleicht kennt er mich irgendwie aus der Schule und hat jetzt erkannt, wer ich bin. Mit dem komischen Mädchen aus der Abschlussstufe will niemand etwas zu tun haben. Oh Gott, er kommt rüber. Bitte mach', dass er an mir vorbei geht!
Ich bestelle mir einen neuen Drink. Die leeren Gläser vor mir schauen mich vorwurfsvoll an. Dafür, dass ich sonst fast nie etwas trinke, habe ich bis jetzt schon ganz schön reingehauen.
Einen Augenblick später sitzt er neben mir und grinst mich breit an. Ich will gar nicht wissen, wie viel er sich heute schon eingeflößt hat.
"Ich bin Nate", brüllt er mir durch die laute Musik entgegen. Seine Stimme klingt schon recht heiser. Am liebsten würde ich ihm sagen, wie wenig mich sein Name oder seine ganze Person interessieren, aber ich rufe mir wieder ins Gedächtnis, wieso ich hier bin und was ich hier will und bin stattdessen freundlich zu ihm.
"Ich bin Erin. Alleine hier?"
"Nein, eigentlich bin ich mit einem Kumpel hier." Er sieht sich um und zuckt dann mit den Schultern. "Aber ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist."
Mir fällt auf, dass er schon ein wenig lallt. Sein infantiles Verhalten amüsiert mich.
"Und du?" Er rückt näher zu mir heran und mir schwebt eine ordentliche Alkoholwolke entgegen. Naja gut, vielleicht ist das der einzige Weg, um heute Abend noch ein bisschen Spaß zu haben. Ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas.
"Dasselbe, meine Freundin ist mit einem Kerl auf der Toilette verschwunden.", lüge ich.
Die einzige Freundin, die ich habe, ist Nora - und die sitzt sicherlich gerade zu Hause und freut sich, dass ihre beste Freundin endlich glücklich mit ihrem geliebten Scott ist.
Nate lacht. "Komm', wir gehen eine rauchen." Er nimmt meine Hand und bahnt uns einen Weg durch die schwitzenden Massen. Gott, ich hasse Menschen.
Draußen empfängt uns die milde Abendluft. Die Temperaturen wären perfekt gewesen für einen Abend mit Henry auf dem Balkon. Nate hält mir eine Zigarette hin und gibt mir sein Feuerzeug. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal geraucht habe. Ich ziehe einmal kräftig und merke, wie mir das Nikotin auch die letzten Hemmungen wegätzt. Wie eklig. Nachdem Nate sich auch eine angesteckt hat, zieht er mich ein wenig um die Ecke des Clubs. Hier sind nicht so viele Menschen, nur ein paar knutschende Pärchen und Mädchen, die weinend an ihrem Handy hängen und abgeholt werden wollen.
"Und, was machst du so?", fragt Nate. Würde ich auf Typen in meinem Alter stehen, wäre er tatsächlich ganz süß.
"Ach weißt du, mein Leben ist ziemlich langweilig. Erzähl' lieber was von dir."
Wieder kommt er ein Stück näher. Neben dem Alkohol rieche ich jetzt auch noch Schweiß. "Naja, wie du siehst, gehe ich gerne feiern." Er legt mir einen Finger unter das Kinn und hebt meinen Kopf etwas an. "Und ich mag hübsche Mädchen." Ich fühle mich äußerst angeekelt. Mit aller Kraft lege ich in mir einen Schalter um und schenke ihm mein süßestes Lächeln.
"Tust du das, ja?" Wie ferngesteuert lege ich ihm eine Hand auf die Schulter und ziehe ihn an mich. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schmeiße ich unsere Zigaretten auf den Boden und presse dann mit zugekniffenen Augen meine Lippen gegen seine. Er lässt sich sofort darauf ein und es dauert nicht lange, bis sich unsere Zungen berühren. Ich kann den Geschmack seiner Zigarette schmecken. Eine Weile funktioniert das, aber dann schweifen meine Gedanken ab und ich bin nur noch körperlich anwesend. Nate scheint das nicht zu bemerken; zu sehr ist er damit beschäftigt, meinen Hintern durchzukneten wie einen Brotteig. Hoffentlich hat er mir da gerade keinen Knutschfleck gemacht. Ich frage mich, was Henry wohl gerade macht. Er hat mir geschrieben, er sei jetzt allein in seiner Wohnung. Und dass es nicht so war, wie es aussah. Das kann ja jeder sagen. Und trotzdem gibt es einen winzig kleinen Teil in mir, in meinem Herzen, der ihm glauben will. Henry hätte doch nicht so viel aufs Spiel gesetzt, wenn er es nicht ernst mit mir meinen würde?
"Henry..."
"Süße, ich bin Nate, nicht Henry...", stöhnt Nate. Mich durchfährt ein Schauer. Wortlos stoße ich den Typen von mir weg und renne los. Nate ruft mir hinterher, wo ich denn hinwill und ob er mitkommen soll, aber ich drehe mich nicht mehr um. Ich weiß nicht genau, in welcher Richtung ich mein Auto geparkt habe, aber ich muss unbedingt weg von hier. Mir wird schwindelig beim Rennen und ich habe Mühe, mich auf den Beinen zu halten.
Endlich. Da steht er, mein kleiner roter Flitzer. Ich halte mich an einer Hauswand fest und kurz darauf entleert sich mein kompletter Mageninhalt auf den Bordstein. Ich kotze alles aus, den Alkohol, den Zigarettengeschmack und die Küsse von Nate. Alles verschwimmt um mich herum; ich sehe nur noch vage Umrisse der Häuser und der parkenden Autos. Aber ich will jetzt nach Hause. Benommen krame ich in meiner Handtasche nach meinem Autoschlüssel. 
Frustriert stelle ich fest, dass meine Schuhe den Großteil meines Mageninhaltes abbekommen haben, und ziehe sie aus. Auf Strümpfen torkele ich auf das Auto zu.
"Du willst doch in diesem Zustand nicht fahren."
Oh oh.
"Doch, wie soll ich denn sonst nach Hause kommen?" Entschlossen öffne ich die Tür zur Fahrerseite und will einsteigen, aber eine starke Hand hält mich an der Schulter fest.
"Ach Mr. Jones, lass' mich einfach in Ruhe." Ich muss würgen und Henry zieht mich auf die Straße, bevor ich mich ins Auto übergebe. Ich fühle mich wie Dreck.
"Was machst du überhaupt hier... Alte Männer wie du dürfen nicht in Clubs feiern gehen."
"Vielen Dank", murmelt Henry und dreht mich so um, dass ich ihn anschaue. "Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und bin losgelaufen, um dich zu suchen. Dann habe ich dein Auto gesehen. Wie kannst du nur trinken und dann Auto fahren?"
Trotzig sehe ich ihn an. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr betrunken, sondern sehe alles mit klarem Blick. Als hätte ich mit dem ganzen Schleim eben auch meinen Pegel ausgekotzt.
"Wahrscheinlich bin ich einfach zu jung für dich und dein spießiges Leben. Nein, warte! Ich bin nicht zu jung für dich, sondern du bist zu alt für mich. Tschüss." Achtlos entreiße ich mich seinem Griff und steige ins Auto. So schnell ich kann, gebe ich Gas und mache, dass ich nach Hause komme.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt