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In der letzten Woche der Weihnachtsferien wird mir klar: Zeit heilt gar nichts. Das merke ich allzu deutlich, wenn ich alleine in meinem Zimmer sitze und versuche, den Schulstoff irgendwie nachzuarbeiten, wenn ich für meine Mutter einkaufen gehe und abends, wenn ich nicht einschlafen kann. Eigentlich immer. Noras Versuche, mich aus dem Haus zu holen und ein bisschen Spaß zu haben, wehre ich vehement ab. Ich glaube, langsam merkt sie, dass etwas nicht stimmt. Mein Knöchel ist mittlerweile dick und blau geworden, ganz klar verstaucht. Aber ich verstecke es, so gut ich kann, denn ich will nicht zum Arzt. Schmerzsalbe darauf schmieren und kühlen kann ich auch ohne Krankenschein. Außerdem muss ich, obwohl sich alles in mir querstellt, zur Schule gehen. Und zu Henry. Er hat sich seit der Silvesternacht nicht mehr gemeldet und ich hatte zu viel Angst, um ihm zu schreiben oder ihn gar anzurufen. Und so sitze ich jeden Tag da und lege mir die Worte zurecht, die ich ihm in der Schule an den Kopf knallen will, und verwerfe meine Ideen nach fünf Minuten wieder und erinnere mich daran, dass es sowieso nichts bringen würde. Was will ein dummer alter Lehrer schon von einem Mädchen.

Das Klingeln des Weckers trifft mich wie eine Kanonenkugel. Erster Schultag im neuen Jahr - wie ich mich freue! Der Gedanke, dass bald Abschlussprüfungen sind, hilft mir nicht sonderlich.
Da mein Vater sich in den letzten Tagen eine dicke Erkältung mit Fieber zugezogen hat und jetzt mindestens zwei Wochen zu Hause bleiben muss, darf ich mit dem Auto zur Schule fahren. Ich versuche, alle drei Pedale mit meinem gesunden Fuß zu bedienen, und komme drei mal fast von der Straße ab und in den Gegenverkehr. Während der Fahrt überfällt mich eine Panikattacke nach der anderen, bis ich völlig verschwitzt und zitternd auf den Parkplatz biege. Ein erster suchender Blick - sein Auto steht nicht da.
Ich hasse das Gefühl, nach langer Zeit der Abwesenheit wieder in die Schule zu kommen. Gut, eigentlich hasse ich im Allgemeinen das Gefühl, in die Schule zu kommen. Es fühlt sich an, als würden mich alle anstarren und über mich reden. Ich mache mich dünn, so gut es geht, und bahne mir meinen Weg in den Klassenraum, wo Nora schon auf mich wartet und hektisch winkt, als sie mich sieht.
"Erin, Süße, was ist denn mit dir passiert?" Sie umarmt mich fest.
"Hm?" Mein Gehirn weigert sich, zu funktionieren.
"Du humpelst ja..."
"Ach ja... Ich bin beim Gehen in... einem Loch umgeknickt."
Halt, warte. Ich bin wie ein fettes Walross die Treppe heruntergefallen, weil ich in Gedanken bei meinem Lehrerfreund und nicht mehr Herrin meiner Sinne war.
Nora sieht mich bemitleidend an. "Maus... was machst du denn? Kannst du so überhaupt Auto fahren?"
Es klingelt zum Unterrichtsbeginn. Eigentlich hätten wir jetzt mit... Henry. Aber er ist nicht da, was den Großteil der Klasse natürlich freut. Mindestens zwanzig Minuten sitzen alle und warten, dass irgendetwas passiert.
Aber das Fehlen des Lehrers hält Nora natürlich nicht davon ab, Unterricht zu machen. Sie hat schon ihr Buch aufgeschlagen und tippt mir energisch auf die Schulter.
"Komm, Erin, wir gehen das alles nochmal durch. Du warst ja so lange nicht da." Seufzend gebe ich mich ihr hin und versuche, mich zu konzentrieren. "Also... wir haben im Prinzip alles nochmal wiederholt, als du nicht da warst. Du musst..."
Da ist er.
"Erin? Hörst du mir überhaupt zu?"
Er ist hier.
"Erin! So wird das nie was mit den Prüfungen!"
"Was?"
Komm' schon, sieh' zu mir.
"Sorry, Nora. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, wenn es hier so laut ist." In diesem Moment knallt Henry seine Tasche auf den Tisch und bringt die Klasse dazu, sich ihm zuzuwenden, aber sofort kommen wieder Kommentare aus den hinteren Reihen.
"Sie sind zu spät, Sie müssen draußen bleiben!"
"Genau wie Ihnen kann es auch mir passieren, dass ich zu spät komme. Dafür entschuldige ich mich. So."
Oh Gott, seine Stimme. Ich merke, wie meine Augen glasig werden.
Er packt seine Sachen aus und ist dabei langsamer als sonst. Und ich möchte fast behaupten, dass seine Hände zittern.
"Zuallererst möchte ich Ihnen allen ein frohes neues Jahr wünschen und vor allem ein erfolgreiches. In diesem Jahr werden Sie Ihre Prüfungen absolvieren und danach wird jeder von Ihnen in eine andere Richtung gehen."
Nun sieh' schon zu mir, verdammt!
"Gut. Fangen wir an." Er gibt uns eine Aufgabe und während langsam Ruhe in die Klasse kehrt, füllt er im Kursbuch die Anwesenheitsliste aus. Er setzt ein paar Haken und schaut danach wieder auf. Mein Name kommt ziemlich als Letzter. Wie gebannt warte ich, bis er unten angekommen ist, um seinen Blick abzufangen, aber er sieht nicht auf. Vielleicht merkt er, dass ich ihn beobachte. Ein Stupser von Nora bringt mich dazu, meine Nase wieder ins Buch zu stecken. Nach ein paar Minuten steht Henry auf und lehnte sich gegen die Vorderseite seines Tisches. Er verschränkt seine Arme vor der Brust und sieht aus dem Fenster. Als der Geräuschpegel der Anderen wieder ansteigt, nimmt er ein Stück Kreide in die Hand und lässt sich von Nora den Lösungsweg diktieren.
"Hat das jetzt jeder verstanden?" Niemand meldet sich und langsam wird es zu offensichtlich, dass er mit Absicht nicht zu mir schaut.
"Erin, hast du es auch verstanden?", flüstert Nora und schiebt ihr Heft ein Stück zu mir, "Melde dich, er erklärt es dir sicher nochmal."
"Alles gut, Nora, ich glaube, diesmal habe ich es wirklich verstanden." Und das ist die Wahrheit.
Kurz vor Ende der Stunde kommt die Schulsekretärin zu uns, eine kleine, hagere Frau mit grauen Haaren, und steckt Henry einen Zettel zu. Sie nickt hastig in die Runde und verlässt den Raum wieder.
"Oh, wie es aussieht, fällt der Rhetorikkurs bei Mrs. Hastings im nächsten Block aus. Alle, die diesen Kurs heute gehabt hätten, haben die Ehre, die nächsten beiden Stunden noch einmal Mathematik zu machen, und zwar bei... mir." Na toll. Was für ein Zufall, dass ich bei Mrs. Hastings im Kurs bin. Super, nochmal zwei Stunden bei ihm, und dann ohne Nora. Was für eine Scheiße.
Nach der Stunde bleibt Nora noch bei mir sitzen. Henry hat seine Sachen liegen lassen und fluchtartig den Raum verlassen. Ich überspiele meine Enttäuschung und höre Nora zu, die mir jetzt haarklein ihre Trennungsszene von ihrem Internetfreund darlegt. Es tut mir ehrlich leid für sie, denn es scheint sie wirklich sehr mitzunehmen. Ich muntere sie auf, so gut ich kann, und lenke so sie und auch mich selbst von meinen eigenen Problemen ab. Doch irgendwann ist auch die Pause vorbei und Nora muss zu ihrem nächsten Kurs. Ich stelle meine Tasche auf ihren Stuhl und als Henry den Raum betritt und es immer noch nicht schafft, mich anzugucken, vergeht mir endgültig die Lust und ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Haare drüber und niemand wird bemerken, dass ich nur körperlich anwesend bin. Während Henry mit den anderen die Winkelsätze wiederholt, werde ich von meiner Musik beschallt und kritzele in Gedanken vor mich hin. Doch zu schnell werde ich aus meinen Gedanken gerissen. "Mrs. Whyler?" Verwirrt schaue ich auf und alle Blicke sind auf mich gerichtet. "Mrs. Whyler, darf man heute noch eine Antwort von Ihnen erwarten?" Das hat er jetzt nicht im Ernst gesagt. Ich könnte ihn erwürgen! Trotzdem raubt mir sein Anblick den Atem. Wie kann er es wagen, mich tagelang zu ignorieren und jetzt vor dem ganzen Kurs bloßzustellen?
"Ich... Wie war die Frage?" Die ersten beginnen zu kichern und meine Hände ballen sich unter dem Tisch zu Fäusten. Ich nehme mir einen Kopfhörer aus dem Ohr und versuche, Anschluss an das Thema zu finden - vergebens. Aber Henrys Blick provoziert mich nur noch mehr.
"Erin, hören Sie etwa gerade Musik in meinem Unterricht?" Wütend sieht er mich an, aber von Reue ist bei mir keine Spur. Es ist doch sowieso alles egal.
"Allerdings." Ich lehne mich im Stuhl zurück.
"Wenn meine Leistungen so... ausbaufähig wären wie die Ihren, Mrs. Whyler, würde ich mich eher auf den Unterricht konzentrieren als auf mein Handy."
"Na zum Glück sind Ihre Leistungen nicht so ausbaufähig wie meine, Mr. Jones."
"Pack' jetzt dein Handy weg." Er sieht mich an und ihm fällt es sichtlich schwer, sich zu beherrschen. Aber das stachelt mich nur noch mehr an. Für den Moment ist meine Trauer verflogen und verwandelt sich in rasende Wut. Ich könnte aufspringen und ihm ins Gesicht schlagen.
"Was willst du eigentlich? Lass mich in Ruhe mit deiner Scheiße." Und plötzlich herrscht Stille im Raum. Alle gucken gebannt zwischen mir und Henry hin und her, in der Erwartung, dass es gleich einen riesen Krach gibt. Aber Henry atmet nur tief durch und fährt sich durch die Haare. Für einen kurzen Moment tut es mir leid, was ich gerade zu ihm gesagt habe.
"Mrs. Whyler, ich glaube, Sie schreiben heute nach Unterrichtsschluss einen Test über das, was wir heute behandelt haben. Ich sehe Sie nach der letzten Stunde in diesem Raum." Und damit ist das Thema für ihn erledigt - zumindest äußerlich. Um nicht komplett auszurasten, stecke ich meine Kopfhörer wieder rein und stelle die Musik so laut, dass ich nichts mehr von seinem Gequatsche höre. Den Rest der Stunde nimmt er mich nicht mehr dran und als es zum Stundenende klingelt, bin ich die Erste, die den Raum verlässt.
Durch den Buschfunk hat Nora natürlich von meinem kleinen... Disput mit Mr. Jones mitbekommen. "Erin! Was fällt dir ein? Was ist denn in letzter Zeit los mit dir?"
"Es... es ist mit mir durchgegangen. Du weißt doch, wie alle anderen sich mir gegenüber verhalten. Er hätte einfach seinen Unterricht machen können und mich dabei in Ruhe lassen."
"Aber zu diesem Test gehst du, und wenn ich dich höchstpersönlich dort abliefere."
Und so stehen wir nach der letzten Stunde vor dem vereinbarten Raum. Schüler drängeln sich an uns vorbei und Nora redet pausenlos auf mich ein. In den restlichen Kursen, die wir glücklicherweise zusammen hatten, hat sie mir alles bis ins Detail erklärt und ich fühle mich jetzt einigermaßen vorbereitet. Wenn Henry mir schon einen Test reindrückt, will ich wenigstens passabel abschneiden.
Als Mr. Jones um die Ecke biegt und mich feindselig anstarrt, gibt Nora mir einen Kuss auf die Wange und verabschiedet sich. "Viel Glück, meine Süße. Du schaffst das! Und lass dich von seinem bösen Blick nicht einschüchtern. Du wirst ihn umhauen!"
Wortlos betritt Henry den Raum. Ich setze mich ans Fenster und krame mit zitternden Händen nach einem Stift.
"Vierzig Minuten.", sagt Henry und knallt mir ein Blatt voller Zahlen auf den Tisch. Dann geht er wieder nach vorn und setzt sich hin. Es fällt mir unglaublich schwer, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Viel lieber würde ich Henry aus dem Fenster werfen oder mich auf ihn stürzen und ihn von oben bis unten abknutschen. Ich sehe, dass er in sein Handy vertieft ist.
Mühsam versuche ich, mich an das zu erinnern, was Nora mir vorhin eingebläut hat, und nach und nach schaffe ich es, ein paar Aufgaben zu lösen. Mr. Jones würdigt mich keines Blickes, die ganze Zeit nicht. Es wird schon dämmrig draußen. Erst, als er aufsteht und auf mich zukommt, sieht er mich an.
"Die Zeit ist um."
"Hier, bitteschön." Unsere Hände berühren sich, als ich ihm das Blatt gebe. Sofort bekomme ich eine Gänsehaut. Er überfliegt meine Rechnungen mit den Augen.
"Möchtest du deine Note gleich wissen?", fragt er dann und zückt einen roten Kugelschreiber.
"Nein, aber es gibt andere Dinge, die ich nur zu gerne wissen würde." Eine bessere Gelegenheit, allein mit ihm zu sprechen, bekomme ich nicht. Henry sieht mich plötzlich traurig an.
"Also gut." Er setzt sich auf einen Tisch in der ersten Reihe. "Was sollte das heute im Unterricht?"
Oh, Henry, Schatz. Haben wir nicht wichtigere Probleme?
"Ach, komm' schon. Du weißt ganz genau, dass ich die Kacke sowieso nicht verstehe, und da nimmst du mich dran und blamierst mich vor allen anderen. Du weißt, dass sie kein gutes Haar an mir lassen."
"Das gibt dir aber nicht das Recht, in meinem Unterricht mit dem Handy Musik zu hören." Seine Stimme ist ganz ruhig, fast so als hätte es den vor Wut kochenden Henry von vorhin niemals gegeben.
"Was, wenn ich dir sage, dass ich an nichts anderes mehr denken kann als an dich? Henry! Ich liege zu Hause wie eine Leiche und frage mich jede Sekunde, was ich falsch gemacht habe, dass du mich so von dir stößt!" Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
"Es... es war doch nicht deine Schuld. Ich weiß, wir hatten das Thema schon tausend Mal, aber..."
"Lass es gut sein", unterbreche ich ihn. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Mein Ziel war es, mich wieder mit ihm zu vertragen und nicht mir einen Vortrag anzuhören, warum wir nicht zusammen sein können. Ich nehme meine Tasche und stehe auf. "Ist schon gut, Mr. Jones. Ich werde Sie in Ruhe lassen."
Mit halb offenem Mund verfolgt er, wie ich langsam zur Tür humpele und dabei nach meinem Autoschlüssel suche. Mit der Hand an der Klinke bleibe ich stehen und drehe mich noch einmal zu ihm um. "Aber weißt du was? Ich werde niemals vergessen, wie du mich geküsst hast, und wie glücklich ich dabei war. Und du warst es auch, das weiß ich genau. Auch, wenn du das nicht zugeben willst." Dann öffne ich die Tür und hinke so schnell ich kann die Treppen hinunter und raus zum Parkplatz. Dort kämpfe ich mit der Kofferraumklappe, die schon wieder klemmt, und weine, bis mein Brustkorb unter den Schluchzern bebt. Außer seinem und meinem Auto stehen nur noch die Fahrräder der Reinigungskräfte da. Irgendwann sitze ich endlich im Auto und lasse den Motor an. Aber durch meine warme Atemluft sind die Scheiben von innen so beschlagen, dass ich noch warten muss, bis ich losfahren kann. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Henry das Schulgebäude verlässt und sich suchend umschaut. Als er mein Auto sieht, beschleunigt er seinen Schritt.
Shit, er kommt her. Egal, was er jetzt noch will, ich darf mir nichts anmerken lassen. Wie selbstverständlich macht er die Fahrertür auf und hockt sich vor mir hin.
"Erin, hör auf zu weinen... bitte..." Er greift nach meiner Hand, die sich am Lenkrad festklammert. "Ich habe gesehen, wie dick dein Knöchel ist. So kannst du doch nicht Auto fahren."
"Es geht schon. Bin ja heute früh auch hergekommen. Lass mich einfach in Ruhe."
"Ich sehe doch, wie fertig du bist. Das mit dem Test war dumm von mir. Wenn du willst, benote ich ihn nicht."
"Darum geht es doch nicht! Es ist mir egal, was im Unterricht passiert. Es hat verdammt nochmal wehgetan, als du mich an Silvester weggeschickt hast. Du sagst, ich habe nichts falsch gemacht, aber es muss doch einen Grund gegeben haben, warum du dich plötzlich so verhalten hast! Und ich komme einfach nicht damit klar, dass du so kalt zu mir warst." Zitternd suche ich ein Taschentuch, scheitere aber und wische mir mit dem Jackenärmel übers Gesicht. Henry lässt meine Hand nicht los. Sein Atem dampft in der kalten Januarluft.
"Versetz' dich doch mal in meine Lage. Es ist schon schlimm genug, dass ich Gefühle für eine meiner Schülerinnen habe und mich diesen hingebe. Dann hole ich sie zu mir nach Hause, womit ich mich strafbar mache, und dann schlafe ich fast mit ihr. In dem Moment, als das Feuerwerk losging, ist mir klar geworden, dass das zu weit geht. Egal, wie sehr ich es will. Wie sehr ich dich will, Erin. Ich habe das Gefühl, dass wenn du mit mir zusammen bist, du einen riesigen Teil deiner Jugend verpasst. Du verpasst Partys, Jungs, Spaß."
"Glaubst du wirklich, dass mich ein Kerl auch nur ansehen würde? Du siehst doch jeden Tag, wie mein Umfeld auf mich reagiert. Außerdem verpasse ich nichts. Alles, was jetzt noch kommt, will ich mit dir!"
"Was machst du nur mit mir..." Henry dreht sich um und erst jetzt sehe ich, dass eine der Reinigungskräfte gerade auf ihr Fahrrad steigt und dabei in unsere Richtung sieht. Zum Glück sind wir zu weit von ihr entfernt, als dass sie unsere Gesichter erkennen könnte.
"Was machst du heute noch?", fragt Henry und sieht mich erwartungsvoll an.
"Wahrscheinlich in meinem Zimmer hocken und mich über den versauten Test ärgern."
"Fahr' mir hinterher." Er streichelt noch einmal über meine Hand und geht dann zu seinem Auto. Ich tue, was er mir gesagt hat, und schon bald weiß ich, wo er mit mir hin will. Wir parken eine Straße von seiner Wohnung entfernt.
"Möchtest du reingehen? Ich meine, wir können auch hier draußen bleiben, wenn du willst."
"Nein, lass uns reingehen. Es ist kalt." Drinnen steuert Henry die Treppe an. Als er sieht, dass ich auf den Fahrstuhl warte, grinst er.
"Ich dachte, du magst keine Fahrstühle."
"Und deswegen wärst du die Treppen bis in den vierten Stock gelaufen?" Er nickt und in seinem Blick liegt etwas Warmes.
In seiner Wohnung angekommen, fühle ich mich direkt in die Silvesternacht zurückversetzt.
"Ich mach uns einen Tee", verkündet Henry und geht in die Küche. Ich suche mir unterdessen eine CD aus dem Regal und lege sie in die Anlage. Ein paar Minuten später sitzen wir auf dem Sofa und trinken Tee.
"Wusstest du, dass es so einen kalten Winter das letzte Mal vor 25 Jahren gab?"
"Nein... nein, das wusste ich nicht."
"Man sollte ein Kältefrei in den Schulen einführen. Hey, du sitzt doch an der Quelle, kannst du nicht mal mit dem Rektor sprechen?"
"Klar, alles nur für dich, du Frostbeule."
"Ich bin mir sicher, dass viele andere Mädchen meiner Meinung wären. Obwohl... die können meinetwegen alle erfrieren. Gott, ich hasse Menschen."
"Ich glaube, die Leute haben nur ein falsches Bild von dir, weil du so still bist."
"Nein, die meisten mögen mich ohne Grund nicht, Henry. Erst haben sie mich nicht gemocht, weil ich zu gut in der Schule war, und jetzt lachen sie mich aus, weil ich zu schlecht bin. Im Prinzip ist egal, was ich mache, es ist sowieso falsch."
"Nur noch ein paar Wochen, dann hast du es geschafft."
"Wochen, du bist ja optimistisch. Die Punkte zählen noch bis März."
"Stimmt. Ende März werden sie zusammengezählt."
"Ein paar Punkte muss ich noch sammeln, glaube ich, sonst wird es eng."
"Ich helfe dir, wenn du möchtest."
"Danke."
"Aber nur, wenn du mich nicht mehr so anschnauzt im Unterricht." Ich merke zwar, dass er das als Scherz gemeint hat, aber ich möchte trotzdem nicht über diesen Vorfall reden. Gedankenverloren schaue ich auf die Sofalehne, während Henry über meinen Oberschenkel streichelt.
"Ist da irgendwas auf dem Sofa?", fragt er nach einer Weile.
"Nein..."
"Wenn du möchtest, können wir auch rausgehen."
"Denkst du, ich fühle mich hier unwohl? Es ist alles gut. Und zu deiner Info, ich fand alles, was auf diesem Sofa passiert ist, wunderschön. Das wollte ich nur gesagt haben."
"Und ich finde dich wunderschön." Er küsst mich. Nach all den Tagen habe ich nur darauf gewartet, dass er seine warmen Lippen endlich auf meine legt. Ich liebe ihn so sehr. "Aber ich finde... Sei mir nicht böse. Ich finde, wir sollten die Dinge etwas... langsamer angehen lassen. Wenn das für dich in Ordnung ist."
Oh Gott, am liebsten würde ich jetzt sofort über ihn herfallen.
"Wenn du das willst..."
"Wann wirst du achtzehn?", seufzt er. Ich setze mich auf seinen Schoß, sodass ich ihn ansehen kann. Dabei versuche ich so gut es geht, meinen schmerzenden Knöchel zu ignorieren. Dann nehme ich sein Gesicht in beide Hände.
"Du bist ein Blödmann." Grinsend küssen wir uns. Wie selbstverständlich legt er seine Hände auf meinen Po und ich fahre mit meinen Fingern durch seine Haare. Es dauert nicht lange und ich mache mich an seinem Pullover zu schaffen. Dabei merke ich, wie sich seine Muskeln anspannen und er ein wenig zusammenzuckt.
"Beruhig' dich", lache ich, "Ich hab' meine Tage."

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt