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An diesem Abend denke ich noch lange über Henrys Worte nach. Es fällt mir schwer, ihm zu glauben. Immer wieder sehe ich die Frau vor mir, wie sie da im Türrahmen steht und mich süffisant anlächelt.
Wenn ich ehrlich bin, will ich Henry sofort zurück. Ich will ihn in meine Arme schließen und nie wieder loslassen. Wenn es stimmt, was er mir erzählt hat, dann hat er nichts falsch gemacht und ihn trifft keine Schuld.
Auf der anderen Seite möchte ich nicht naiv wirken und mich von ihm an der Nase herumführen lassen. Schließlich bin ich alt genug und sollte wenigstens ein kleines bisschen Menschenkenntnis besitzen. Auch wenn diese mich gerade im Stich lässt.

"Oh, hallo, Mrs. Whyler! Schön, Sie mal wieder zu sehen!" Lächelnd winke ich dem Portier zu und steige dann in den Fahrstuhl hoch zu Henrys Wohnung. Nachdem ich ihm die letzten Tage mehr oder weniger erfolgreich aus dem Weg gegangen bin und jede seiner Stunden geschwänzt habe, habe ich es nun nicht mehr ausgehalten. Zweimal sind wir uns auf dem Schulflur begegnet - naja, fast, denn sobald Nora ihn von Weitem gesehen hat, hat sie mich mit sich um die nächste Ecke gezogen. Es fällt ihr schwer, mich in seine Nähe zu lassen. Ich glaube auch, dass sie denkt, dass ich noch immer Angst vor ihm habe. Wahrscheinlich werde ich es niemals übers Herz bringen, ihr meine Lüge zu beichten. Schon oft genug habe ich mir ausgemalt, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr sagen würde, dass Henry und ich zusammen sind und er mich nicht gegen meinen Willen angefasst hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Nora komplett ausflippen würde. Das ist ihre Art. Sie würde mich nie wieder angucken. Und ich weiß aus Erfahrung, dass Nora einen so sehr ignorieren kann, dass man am Ende selbst an seiner eigenen Existenz zweifelt. Einmal haben wir uns so sehr gestritten, dass sie mich drei Wochen nicht mehr angesehen hat. Schaudernd schiebe ich den Gedanken beiseite.
Irgendetwas in mir sagt mir, dass Henry mich nicht belogen hat. Und ich will ihm glauben.
Zu Hause konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, also habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich bei Scott bin und bin ins Auto gestiegen. Es ist Mittwochabend und nächsten Montag beginnen die finalen Prüfungen. Ich habe mir fest vorgenommen, am Wochenende zu pauken.
Zitternd drücke ich auf die Klingel. Theoretisch müsste Henry zu Hause sein - zumindest habe ich sein Auto unten an der Straße stehen sehen. Dieses Mal achte ich besonders darauf, ob das Klackern von Absatzschuhen zu hören ist. Denn in diesem Fall habe ich mir vorgenommen, zu rennen. Aber statt hohen Damenschuhen ist das plumpe Stampfen von großen Männerfüßen zu hören. Ich stehe etwas seitlich an der Tür, damit Henry mich nicht gleich durch den Türspion erkennen kann.
Er öffnet die Tür und ich kämpfe mit aller Kraft gegen den Drang, ihn zu küssen. Der Blick, den er mir gibt, ist eine Mischung aus Überraschung, Trauer und Erleichterung. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht es so aus, als wollte er etwas sagen, aber stattdessen macht er einen großen Schritt auf mich zu und schließt mich wortlos in seine starken Arme. Er ist warm und sofort steigt mir wieder der vertraute Henry-Duft in die Nase. Wie könnte ich diesen Duft nur jemals vergessen... Ich presse mein Gesicht gegen sein Shirt und Tränen weichen den Stoff auf. Henry küsst mein Haar und streichelt meinen Kopf. Nach einer Ewigkeit lösen wir uns voneinander und er sieht mich wieder an.
"Nicht weinen. Ich lass' dich nie wieder gehen." Seine Stimme wieder zu hören ist wie nach einer langen Reise endlich nach Hause zu kommen. Meine ganze Anspannung und Angst fallen von mir ab und ich fühle mich sicher und geborgen bei Henry. Und trotzdem stehe ich jetzt da und heule wie ein verdammter Schlosshund. Ich fühle mich schlecht.
"Oh Gott, ich habe dich so vermisst... ich... weiß nicht, wie... und dann hast du... ach man... Lass' bitte nie wieder halbnackte Frauen in deine Wohnung!" Henry muss lachen.
"Okay. Keine halbnackten Frauen mehr. Außer dir. Und jetzt komm' rein."
Wie lange war ich jetzt schon nicht mehr in seiner Wohnung? Als erstes fällt mir die Ordnung auf. Er hat aufgeräumt, daran besteht kein Zweifel. Unordnung war zwar noch nie wirklich sein Ding, aber heute liegt wirklich nichts da, wo es nicht hingehört. Er hat sogar die großen Sofakissen aufgeschüttelt und die Decke neu zusammen gelegt. Mein kleines Zimmer ist eine Rumpelhütte dagegen. Der Fernseher läuft, aber der Ton ist ausgeschaltet.
"Habe ich dich bei irgendetwas gestört?", frage ich kleinlaut.
"Du störst nie." Henry drückt mir einen Kuss auf den Kopf und nimmt mir meine Tasche ab. Dann bedeutet er mir, im Flur zu warten und geht mit großen Schritten in sein Schlafzimmer. Kurz darauf kommt er mit seiner Geldbörse zurück und zieht sich seine Jacke an. Er klappt den Kragen hoch und öffnet mir wieder die Wohnungstür. Fragend schaue ich ihn an.
"Ich habe Hunger. Du auch?" Ich nicke und er nimmt meine Hand. Im Fahrstuhl presst er mich an sich und mir wird ganz warm.

"Also, auf was hast du Lust?", fragt Henry, als wir unten durch die Eingangshalle nach draußen treten. Die frische Luft ist warm und beruhigend.
Auf den Straßen ist kaum jemand unterwegs, was wohl daran liegt, dass Henry im entlegensten Winkel der Stadt wohnt. Obwohl es noch relativ hell ist, gehen langsam die Straßenlaternen an und flimmern ein dunkelgelbes Licht auf den Fußweg.
"Meinst du, es ist gut, wenn man uns zusammen sieht?"
"Mach' dir darüber keinen Kopf. Ich weiß so in etwa, wer hier hinten so alles wohnt. Uns wird schon niemand sehen." Bei dem letzten Satz bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Meine Schulzeit ist zwar so gut wie zu Ende, aber auf die letzten Tage möchte ich nicht noch mehr Ärger haben, als ich die letzten Jahre hatte. Denn auch, wenn ich schon ein Licht am Ende des Schul-Tunnels sehe, im Moment bin ich noch seine Schülerin und er ist noch immer mein Lehrer.
Ich bleibe stehen, lasse seine Hand aber nicht los. "Henry, können wir bitte wieder hoch gehen? Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass uns jederzeit jemand über den Weg laufen könnte, der uns nicht sehen sollte." Ich ziehe an seiner Hand wie ein kleines Kind, dass mit seinem Papa unbedingt zum Streichelgehege will. "Komm'... Wir finden bei dir zu Hause etwas zum Abendessen."
Henry seufzt. "Na gut." Doch bevor wir uns auf dem Heimweg machen, gibt er mir noch einen schnellen Kuss auf den Mund. Ich bin dankbar, dass wir doch wieder heim gehen. Zugegeben, ich hätte schon Lust auf Pizza gehabt, aber die kann man sich ja schließlich auch liefern lassen.

Eine dreiviertel Stunde später klingelt es an der Tür.
"Ich geh' schon!", brülle ich und klopfe an die Badezimmertür, denn Henry wollte noch schnell unter die Dusche springen.
Mein Fehler war, dass ich nicht durch den Türspion geschaut habe. Denn dann hätte ich gesehen, dass Matthew, der wohl fieseste Typ der Welt und Mobber Nummer Eins, in Arbeitskleidung und mit zwei großen Pizzakartons beladen vor der Tür steht.
Schwungvoll reiße ich die Tür auf und sowohl Matthews als auch mein Grinsen verschwindet blitzschnell. Ich wusste gar nicht, dass er als Pizzabote jobbt. Eigentlich hätte ich ja gedacht, dass Matthew mal wieder einen flotten Spruch auf der Zunge hat, aber er räuspert sich nur und hält mir die beiden Kartons hin.
"Guten Abend, Mrs...", stottert er und blättert in seinen Unterlagen, die ihm anzeigen, welche Haushalte er beliefern muss. "Ich muss nur kurz nachschauen - ich glaube, mir ist ein Fehler unterlaufen."
"Ist alles in Ordnung?", frage ich und bin selbst erstaunt über meinen Mut, ein Wort an Matthew zu richten. Ich habe mich bisher noch nie getraut, etwas zu ihm zu sagen. Er schaut flüchtig in meine Richtung und dann auf das Namensschild neben der Klingel. In diesem Moment wird mir klar, dass es ein Fehler war, selbst an die Tür zu gehen. Fieberhaft suche ich nach einem Ausweg, aber da ist es schon zu spät. Matthew schaut zwischen mir und dem "H. Jones" an der Klingel hin und her, dann starrt er auf das übergroße T-Shirt, das ich trage. Und genau in diesem Moment kommt Henry nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Badezimmer und fährt sich gerade über die nassen Haare. Ich kann ihm nicht mal mehr bedeuten, dass er wieder verschwinden soll. Matthew wird leichenblass, genau wie ich.
"Guten Abend, Mr. Jones." Henry nickt ihm nur zu. Sein lautester Schüler scheint langsam zu verstehen, was hier vor sich geht. Seine Augen weiten sich und er tritt einen Schritt zurück.
"Oh mein Gott, ich fasse es nicht. Dass Whyler alles tun würde, um an gute Noten zu kommen, war mir fast klar. Aber dass sich ein erwachsener Mann wie Sie von ihr flachlegen lässt! Alter... das ist krank." Jetzt sieht er mich an. "Du bist eine Schlampe, Whyler. Du bist so... das ist so eklig. Das ist so eklig." Mit diesen Worten lässt er die Pizzen auf den Boden fallen und verschwindet im Aufzug. Als sich die Fahrstuhltür schließt, wird mir schwarz vor Augen.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt