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Als der Wecker mich mit einem schrillen Klingeln aus dem Schlaf reißt, fühlt es sich für einen kurzen Moment so an, als wäre das alles nur ein böser Traum gewesen. Doch mit jeder Sekunde, die verstreicht, legt sich die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse wieder über mein Gedächtnis wie der schwarze Schleier einer Witwe oder wie diesiger Nebel.

Die Luft im Auto ist so stickig, dass mir der Atem wegbleibt, als ich einsteige. Vielleicht ersticke ich ja oder sterbe sonst irgendwie auf dem Weg zur Schule. Das käme mir zumindest ganz gelegen. Die Bilder von gestern Abend schieben sich wieder in den Vordergrund meiner Gedankenbühne wie schlechte Schauspieler. Jetzt sehe ich alles ganz deutlich und kann mich an jedes Wort erinnern.
Ich biege auf die Hauptstraße und drehe das Radio lauter.

Nachdem Nora mich an meine Mom verraten hat, ist sie in ihr Auto gestiegen und davongezischt. Die Reifen sind so durchgedreht, dass auf unserer Auffahrt nun schwarze Spuren vom verbrannten Gummi zu sehen sind. In der Hoffnung, Mom würde ihr nicht glauben, habe ich mich schnellstmöglich auf den Weg in mein Zimmer gemacht - natürlich ohne Erfolg.
Lange Rede, kurzer Sinn: Meine Mutter hat geweint, mein Dad hat geschrien und ich habe auch geweint. Ich habe versucht, alles abzustreiten und bin bis zum Schluss bei meiner Behauptung, das wäre alles gelogen, geblieben. Spät abends wollte ich Henry anrufen. Dreimal habe ich seine Nummer angewählt und dreimal ist er nicht ran gegangen. Und auf meine Nachrichten hat er auch nicht mehr geantwortet.

Als ich auf dem Parkplatz ankomme, suchen meine Augen automatisch Henrys Wagen, aber ich kann ihn nirgends sehen. Vielleicht hat er ja eine Freistunde und kann länger schlafen. Aber Moment mal - er kann keine Freistunde haben, zumindest nicht jetzt, denn die ersten beiden Stunden hat er bei mir. Wir hätten jetzt Mathe - das letzte Mal vor den Prüfungen.
Okay. Er hat bestimmt nur verschlafen. Ich checke mein Handy. Nichts.
Auf dem Weg in den Klassenraum fühle ich mich permanent beobachtet und erahne, dass ich der Gegenstand sämtlicher Gespräche bin. Ich spüre die Blicke, die sich in meinen Rücken bohren und die leisen Stimmen, die sich durch meinen gesamten Körper winden und mich von innen zerfressen. Auch als ich den Raum betrete und mich an meinen Platz neben Nora setze, sind sofort alle Augenpaare auf mich gerichtet.
Nora ist schon da und tippt auf ihrem Handy herum.
"Guten Morgen.", sage ich tonlos und packe meinen Schreibblock und einen Stift aus. Nora sieht zu mir und kann sich fast ein Lächeln abringen.
"Wie geht es dir?", fragt sie leise. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, in ihrer Stimme klingt Reue mit. Was auch mehr als angebracht wäre - meiner Meinung nach.
"Mir geht es... super. Ich hatte einen schönen Abend und nette Gespräche mit meinen Eltern."
Sie versteht. "Erin, ich musste das tun! Du weißt, dass es mir leidtut. Aber du kannst dich von ihm nicht so benutzen lassen!"
"Ich denke, ich bin alt genug um zu wissen, was ich tue."
"Aber ich wollte dich doch nur beschützen! Was hast du deinen Eltern gesagt?"
"Was wohl?! Ich habe gesagt, dass es nicht stimmt. Weißt du, es war alles perfekt bis zu dem Moment, als er" Ich blicke in Matthews Richtung. Er starrt aus dem Fenster. "uns gesehen hat. Und ich war auch noch so dumm und habe die Tür aufgemacht." Meine Stimme beginnt zu zittern. "Es hätte perfekt sein können."
"Aber er ist dein Lehrer!", zischt Nora. "Er hätte..." Der Schuldirektor Mr. Archer betritt den Raum, flankiert von zwei Polizisten. Ich spüre, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Auch die Aufmerksamkeit der anderen richtet sich jetzt auf den Rektor und seine Begleiter, die nun mitten vor der Tafel stehen und uns ernst anschauen.
"Der Unterricht mit Mr. Jones wird für die verbleibenden Tage dieses Schuljahres entfallen. Mr. Jones wurde vorübergehend aus privaten Gründen beurlaubt." Und wieder richten sich alle Blick auf mich, auch der Rektor starrt mich vorwurfsvoll an. Mir schießen Tränen in die Augen.
"Na, Whyler, fühlst du dich angesprochen?", schallt es aus der letzten Reihe. Ich brauche mich gar nicht umzudrehen um zu wissen, dass das Matt war.
"Schlampe!"
"Lässt sich vom Lehrer ficken und wundert sich dann, wenn er in den Knast wandert!" Langsam bemerke ich, wie nun auch die beiden Polizisten mich ansehen. Ich kann förmlich den Film in ihren Köpfen sehen. Eine einzelne Träne läuft über meine Wange, den Rest kann ich glücklicherweise noch zurückhalten.
Mr. Archer wendet sich nun in meine Richtung. "Mrs. Whyler, wenn Sie mir bitte folgen würden. Für den Rest der Klasse gilt absolute Ruhe. Es wird gleich ein Vertretungslehrer den Kurs unterrichten. Einen schönen Tag." Er bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich fühle mich schlecht. Tausend Fragen schwirren durch meinen Kopf, aber ich habe Angst, sie zu stellen. Dazu kommt die Angst vor dem, was gleich passieren wird. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt verhört werde und Fragen beantworten muss. Und vor allem, wie ich sie beantworten soll. Ich habe Henry einmal geschworen, ihn niemals zu verraten.
Wir gehen die Flure entlang und ich habe das Gefühl, dass sie immer enger werden. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir in einen Raum, in dem ich vorher noch nie war. Er sieht aus wie eine Art Versammlungszimmer. In der Mitte steht ein langer Tisch und darum mehrere gepolsterte Stühle. An den Wänden hängen Landkarten und Bilder. Durch die großen Fenster kann man auf die Hinterseite des Schulhofes sehen, wo die Turnhalle liegt.
Wir setzen uns an das hintere Ende des Tisch. Ich an der Stirnseite, zu meiner Linken einer der Cops und zur Rechten Archer und der zweite Polizist. Bisher hat sich noch keiner der beiden zu Wort gemeldet.
Meine Hände zittern und ich habe Mühe, mich unter Kontrolle zu kriegen. Unter dem Tisch verschränke ich meine Finger so fest ineinander, dass die Knöchel gefährlich weiß hervortreten und beginnen zu schmerzen.
"Delaware State Police", eröffnet einer der Polizisten das Gespräch und deutet auf sich und seinen Kollegen, der mir mir starrer Miene zunickt. "Mrs. Whyler, Sie wissen, worum es geht?"
Ich schüttele den Kopf und sehe ihn mit großen Augen an. Komisch, dass ich immer noch glaube, ich könnte sowohl Henry als auch mich selbst hier rausholen. Es fällt mir schwer, gleichmäßig zu atmen.
Archer ergreift energisch das Wort. Anders als ich erwartet hatte, wirkt er nicht sauer oder aufgebracht, sondern eher besorgt. "Erin, es ist äußerst wichtig, dass Sie hier die Wahrheit sagen! Das ist ein ernstes Thema. Also... bitte erzählen Sie uns etwas über Mr. Jones und sein Verhalten seinen Schülern gegenüber."
Ich schlucke und atme tief durch. Mein Blick klebt an der hellbraunen Tischplatte fest und ich fahre mit den Augen die Holzmaserung nach. "Mr. Jones... ist die Vertretung für Mrs. Woods." Einer der Polizisten schreibt eifrig mit, während der andere nur nickt. "Er ist seit einer Weile unser Klassenlehrer. Und Mathe."
"Seit wann genau?"
"Dezember." Nie werde ich den Moment vergessen, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.
"Wie gibt er sich als Lehrer?"
"Er war immer sehr nett. Anfangs ruhig, aber er wusste immer, wie er sich Respekt verschafft."
"Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu ihm?", fragt Mr. Archer und durchbohrt mich mit seinen Augen.
"Er hat sich große Mühe gegeben, mir bei meinen Schwierigkeiten in Mathe zu helfen. Ich denke, ihm liegt viel daran, dass seine Schüler dem Unterricht folgen können. Ich bin ihm sehr dankbar dafür." In der Hoffnung, dass das genug sein würde, lehne ich mich zurück und schaue auf meinen Schoß.
"Mrs. Whyler, Sie müssen ins Detail gehen. Wissen Sie, gegen Mr. Jones liegen schwere Anschuldigungen vor. Haben Sie eine Ahnung, worum es dabei gehen könnte?"
"Nein."
"Erin!", zischt Mr. Archer, "Sie brauchen ihn nicht beschützen! Und Sie brauchen hier keine Angst haben. Ihnen kann nichts passieren. Haben Sie sich außerhalb der Schule mit Jones getroffen? Hatten Sie eine private Beziehung zu ihm?"
Er weiß es, Erin. Es hat keinen Sinn mehr, zu lügen.
Und doch halte ich an meinem Vorsatz fest. Zu groß ist die Angst, dass Henry etwas passieren könnte.
"Nein, hatte ich nicht. Ich weiß, was die Leute sich erzählen, und ich weiß auch, dass Sie das glauben, Mr. Archer. Und deswegen brauche ich doch gar nicht erst versuchen, mich zu rechtfertigen. Mir glaubt sowieso niemand. Aber ich habe und hatte kein Verhältnis mit Mr. Jones." Jetzt kann ich meine Tränen nicht länger zurückhalten. Beschämt verberge ich mein Gesicht hinter meinen Händen.
"Ich befürchte, wir werden so nicht weiterkommen.", verkündet der Cop zu meiner Linken und steht auf. Alle anderen, auch ich, tun es ihm gleich. "Wir werden die Ermittlungen anderweitig fortsetzen." Nacheinander verlassen wir den Raum.
"Wenn Sie es sich doch noch anders überlegen oder wenn Ihnen etwas einfällt, was Sie uns erzählen möchten, dann melden Sie sich bei uns. Wir wären sehr dankbar." Ich bekomme eine kleine rechteckige Karte mit einer Telefonnummer in die Hand gedrückt. Dann verabschieden die Cops sich von Mr. Archer und verschwinden.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt