Heute ist der 24. Dezember, Heiligabend. Heute Nachmittag fahren wir zu Grandma und morgen gibt es Geschenke.
Aber noch ist es früh am Morgen und ich liege im Bett, die Decke bis zum Kinn, und denke zum tausendsten Mal über die vergangenen Tage nach. Seit dem Abend, an dem Henry hier war, hatten wir keinen Kontakt mehr. Er hat auf keine meiner Nachrichten reagiert, er hat nicht mal gefragt, wie es mir geht oder ob ich vor den Ferien nochmal zur Schule komme. Wahrscheinlich war ihm klar, dass ich nach diesem Ereignis das Haus nicht mehr verlassen würde.
Ich habe bei Mom und Dad meine vermeintliche Periode als Ausrede benutzt, das volle Programm mit Bauchkrämpfen, Stimmungsschwankungen und Übelkeit.
Tag und Nacht saß ich vor meinem Handy und habe auf eine Nachricht von ihm gewartet. Ich starrte aus dem Fenster in der Hoffnung, dass er zufällig an unserem Haus vorbeifahren würde. Aber das tat er nicht. Warum sollte er auch. Soweit ich weiß, wohnt er genau in der anderen Richtung, das hat er mal erwähnt. Das einzig Produktive, das ich zustande gebracht habe, war ein Lerntag mit Nora. Ich habe mich wirklich angestrengt und ihr auch ihr Weihnachtsgeschenk gegeben, das ich auf dem Weihnachtsmarkt für sie gekauft habe.
Ich vermisse ihn so. Sogar nach all den Tagen spüre ich noch seinen Kuss auf meinen Lippen. Nachdem er gegangen ist und mich einfach hat stehen lassen, konnte ich gar nicht fassen, was da gerade passiert war. Erst, als ich sein Auto im Schnee wegfahren sah, wurde mir langsam klar, dass er weg war.
Jedes Mal, wenn ich mir jetzt mit den Fingern über die Lippen fahre, sehe ich ihn wieder vor mir, sehe, wie er sich auf mich legt und mich sanft streichelt. Ich rieche seinen wundervollen Duft, fühle seine weichen Haare und seinen Dreitagebart. Höre seine Stimme. Gott, ich vermisse ihn.
Unten höre ich laute, schnelle Schritte. Anscheinend ist Rick auch wach und hält jetzt Mom und Dad auf Trab. Zum Glück lassen sie mich noch in Ruhe. Ich drehe mich mit dem Gesicht zur Wand, krümme mich unter meiner Bettdecke zusammen wie ein Igel und schließe fest die Augen.
Auf der einen Seite kann ich natürlich verstehen, wieso er so reagiert hat und geflohen ist und auch, wieso er sich nicht mehr meldet. Er ist Lehrer und darf sich nicht privat mit seinen Schülern treffen. Außerdem darf er keinen (körperlichen!) Kontakt zu ihnen haben, der über den Unterricht hinausgeht. Gegen beides hat er verstoßen. Wir haben uns geküsst. Wir haben – hatten - SMS-Kontakt. Er hat meine Hand genommen. Wer weiß, was an dem Abend noch alles passiert wäre. Wozu wir uns hätten hinreißen lassen. Aber er hat die Notbremse gezogen und ist aus der Situation geflohen. Wahrscheinlich ist ihm endgültig klar geworden, wie falsch das Ganze eigentlich ist und dass es schon viel zu weit vorangeschritten ist. Vielleicht war das die letzte und einzige Chance, wieder umzukehren und dem richtigen Weg zu folgen. Vielleicht hat er das begriffen.
Aber der Kuss, seine Umarmung - das war alles so echt. Ich habe es doch gesehen! Ich habe es in seinen Augen gesehen. Er hat sich wohl bei mir gefühlt und er hat nicht einen Moment mit mir bereut. Er hätte sich einfach fallen lassen können; ich hätte ihn aufgefangen.
Ich glaube, das war's – was auch immer das war. Es ist vorbei.
Es klopft an meiner Zimmertür. Ein zaghaftes, unregelmäßiges Klopfen - das kann nur Rick sein. Es folgen Schritte und ein kindliches Quengeln.
"Psssst, Ricky, wir lassen Erin noch schlafen, ja?" Ich seufze.
"Schon gut, ich bin wach." Keine zwei Sekunden später steckt Mom den Kopf zur Tür rein.
"Alles klar, guten Morgen, Schätzchen. Frühstück steht noch unten in der Küche."
Langsam wie eine Schildkröte erhebe ich mich aus dem warmen Bett und krieche runter in die Küche. Auf dem Tisch steht eine leere Schüssel, daneben eine Packung Milch und meine Lieblingscornflakes. Ein kleiner Lichtblick am Morgen.
Mom hockt mit dem Rücken zu mir vor dem Küchenschrank und wühlt darin herum. Es klappert laut und sie murmelt vor sich hin.
"Erin Schatz, weißt du, wo mein Mixer ist?" Ich muss schmunzeln.
"Oben auf dem Schrank, Mom."
Ruckartig steht sie auf, überprüft meine Antwort und grinst mich augenverdrehend an. Dann widmet sie sich dem rohen Kuchenteig vor ihr. Ich mache mich über meine Cornflakes her und sehe ihr dabei zu.
"Geht's dir besser, Schätzchen?", fragt sie nach einer Weile.
Besser? Es könnte mir nicht schlechter gehen.
"Ja", krächze ich und versuche mich an einem Lächeln. Sie nimmt es mir ab. Manchmal frage ich mich, wie sie und Dad ihrer Tochter so viele Lügen glauben können.
Nach dem Frühstück gehe ich mit Rick draußen spazieren. Er war gerade dabei, Dad mit seinem singenden Teddybär in den Wahnsinn zu treiben und ich könnte mal ein bisschen frische Luft gebrauchen. Nachdem ich Rick dick angezogen habe und auch mir selbst eine warme Jacke übergeworfen habe, nehme ich ihn an der Hand und wir gehen los.
Wir kommen nur mühsam vorwärts, denn Rick ist ohnehin noch nicht der Schnellste und weil er alle drei Meter stehen bleiben und einen Schneeengel machen muss, dauert es doppelt so lange. Aber mir soll es recht sein.
Während Rick herumtollt und versucht, mich mit Schneebällen zu bewerfen, versinke ich in den weiß bedeckten Straßen. Alles sieht so friedlich aus. Als würde die weiße Decke, die sich auf die Stadt gelegt hat, uns vor sämtlichen Sorgen und Ängsten schützen. Man sieht kein einziges Auto fahren. Noch sind die meisten zu Hause, bereiten das Festessen zu und packen Geschenke ein. Nachher bei Grandma gibt es wie üblich Truthahn. Das ist ihre Spezialität.Wie er wohl Weihnachten verbringt? Wahrscheinlich fährt er zu seinen Eltern oder Freunden. Ich glaube kaum, dass er in diesen Tagen alleine bleiben wird. Schließlich gibt es morgen früh Geschenke und solch einen wundervollen Morgen sollte niemand einsam verbringen.
Ich rechne nicht damit, dass er sich heute oder morgen meldet und mir frohe Weihnachten wünscht.
Allmählich beginnt Rick zu quengeln, sodass wir wieder nach Hause gehen und keine halbe Stunde später sitzen wir im Auto auf dem Weg zu meiner Großmutter. Gott, ich wünsche mir so sehr ein eigenes Auto.
Grandma empfängt uns mit ihrer vertraut warmherzigen Art. Sie ist die sanftmütigste Frau, die ich kenne; sie übertrifft sogar meine Eltern.
Zum Mittag gibt es eine heiße Suppe, genau das Richtige für eine Frostbeule wie mich. Ich beobachte den Truthahn, der im Ofen vor sich hin gart und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Nach dem Essen bringt Mom Rick ins Gästezimmer, damit er noch ein bisschen schlafen kann. Ich bin mit Grandma in der Küche und helfe ihr beim Tisch abräumen.
"Erin, meine Kleine, komm' mal mit.", flüstert sie auf einmal und gibt mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Wir gehen auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer. Dort kramt Grandma in den Tiefen ihres Kleiderschrankes und hält mir dann eine kleine Plastiktüte vor die Nase.
"Hier, das ist für dich. Ich weiß, eigentlich ist erst morgen Bescherung, aber ich möchte, dass du es jetzt schon aufmachst."
Ich bedanke mich zögernd, schaue in die Tüte und alles, was ich sehe, ist noch eine Tüte, diesmal aber aus Papier. Sie ist schön verziert mit weihnachtlichen Motiven wie Engeln und glitzernden Baumkugeln. Vorsichtig öffne ich die Tüte.
"Grandma, das ist ja wunderschön... Was ist das?" In der Hand halte ich eine Art Brosche, eine Anstecknadel aus Messing oder Kupfer. Sie sieht zugegebenermaßen schon recht alt aus, aber trotzdem hübsch. Sie ist rund und in der Mitte steht ein Pokal oder eine Trophäe, die ringsherum von vierblättrigen Kleeblättern umgeben ist.
"Diese Brosche hat dein Großvater mir geschenkt, als ich nach unzähligen Bewerbungen endlich an einer Universität angenommen wurde." Als sie von ihrem Mann spricht, nehmen ihre Augen einen traurigen Ausdruck an. Grandpa ist noch vor Ricks Geburt einer schweren Krankheit, gegen die er jahrelang gekämpft hatte, erlegen. Ich war selbst noch relativ klein und erinnere mich kaum an ihn, kenne ihn nur von Bildern und Geschichten. Seit seinem Tod wohnt meine Großmutter alleine in diesem riesigen Haus.
"Oh Erin, du glaubst gar nicht, wie verzweifelt ich schon war. Von überall kamen nur Absagen oder Wartelisten. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Aber dann bekam ich endlich den Brief mit einer Zusage. Richard war so stolz auf mich, dass er mir am nächsten Tag diese Brosche mitgebracht hat. Und jetzt möchte ich sie dir schenken. Sie soll dich daran erinnern, niemals den Mut zu verlieren und aufzugeben. Ich weiß, ihr Jugendlichen wollt sowas immer nicht hören, aber du musst fest an dich glauben! Du kannst alles werden, was du willst." Erst jetzt bemerke ich, dass sie Tränen in den Augen hat.
"Grandma, das ist ja wundervoll...Vielen Dank." Ich bin völlig perplex und falle ihr in die Arme. So ein süßes Geschenk hat mir wohl noch niemand gemacht.
"Aber morgen kriegst du auch nochmal etwas", murmelt sie in ihrer typischen Oma-Art und zwinkert mir grinsend zu.
Der Rest des 24. Dezembers verläuft wie jedes Jahr. Essen, quatschen, noch mehr Essen, wieder quatschen.
Ich bin vollgestopft wie ein Bär vor dem Winterschlaf, als wir wieder zu Hause ankommen. Während Dad das Auto parkt, trägt Mom die Sachen zum Haus (Grandma hat uns sehr viel übrig gebliebenes Essen mitgegeben, die Gute) und ich gehe vor, um ihr die Tür aufzuschließen. Mein Blick fällt auf den Briefkasten, aus dem ein kleines Schildchen an einer bestickten Borte hängt. Ich öffne den Briefkasten und hole ein kleines Päckchen heraus. Misstrauisch beäuge ich es. Es ist sorgfältig eingepackt, aber der Karton ist ein bisschen verbeult. Es muss gerade so in den Briefkasten gepasst haben. Auf der Karte steht etwas geschrieben.Erst morgen aufmachen.
Frohe Weihnachten.
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Don't.
Teen FictionDie 17-jährige Erin wird in der Schule stark gemobbt und leidet regelmäßig unter Panikattacken. Als dann auch noch ihre Klassenlehrerin, die ihr immer zur Seite stand, in den Mutterschutz geht, bricht für Erin eine Welt zusammen. In den Vertretungsl...