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Ich fahre noch lange in der Stadt herum, ehe ich mich auf den Heimweg mache. Das Blöde ist, dass meine Eltern beide zu Hause sind, es sei denn, sie sind selbst in die Stadt gefahren. Was ja durchaus möglich wäre, schließlich ist Vorweihnachtszeit und jeder macht hier und da kleine, geheimnisvolle Besorgungen.
Ich habe Glück, sie sind tatsächlich nicht zu Hause. Auf dem Tisch liegt ein Zettel.

Hi Schätzchen, wir sind einkaufen. Könnte später werden, vielleicht fahren wir hinterher noch zu Grandma. Im Kühlschrank steht noch das restliche Essen von gestern, das kannst du dir warm machen.
Bis heute Abend, ich habe dich lieb. Mom

Na gut. Dann habe ich das Haus also erst einmal für mich. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass schon vor einer halben Stunde Unterrichtsschluss war.
Ich hole mir die Schüssel mit den Nudeln aus dem Kühlschrank und stelle sie in die Mikrowelle. Als die Nudeln fertig sind, setze ich mich an den großen Tisch und lege mein Handy neben den Teller. Ich schaue aus dem Fenster und sehe unsere Nachbarin Mrs. Jackson, die mit zwei vollgepackten Einkaufstüten die Straße entlang watschelt.
Was war das bloß für ein schrecklicher Tag. Am liebsten würde ich gar nicht wieder zur Schule kommen. Versteh' das alles sowieso nicht. Und ob ich nun da bin oder nicht, darum schert sich niemand. Am allerwenigsten ich selbst.
Mein Handy klingelt und mich durchfährt ein wohliger Schauer. Aber es ist Nora.
"Hey Süße, alles wieder gut?" Ich muss ein wenig lächeln.
"Zumindest besser als vorhin. Habe ich noch etwas verpasst?"
"Ja, Mr. Jones hat mega 'rumgeschrien, nachdem du weg warst. Und die Klasse war still! Es hat niemand gelacht oder dumme Witze gerissen. Ich hätte nicht gedacht, dass Jones das drauf hat."
Jetzt muss ich grinsen. Hat er mich etwa verteidigt? Ach Quatsch, das würde er bei jedem seiner Schüler machen. Das ist sein Job.
"Wow, das hätte ich gerne gehört.", sage ich und versuche dabei, möglichst gleichgültig zu klingen.
"Ansonsten war nichts Besonderes mehr. Unterricht halt. Kommst du morgen wieder?"
"Ich sage dir morgen früh Bescheid. Danke für deinen Anruf. Bis morgen!"
Ich glaube nicht, dass ich morgen wiederkomme.
Nachdem ich fertig mit dem Essen bin, gehe ich hoch in mein Zimmer. Langsam wird es dunkel draußen. Es macht mir Angst, dass es jetzt schon so früh dunkel wird. Es noch nicht mal vier Uhr.
Wenn alle anderen nach Hause kommen, wird es stockdunkel sein.
Wieder meldet sich mein Handy.

Jones, 3.50 p.m.
Soll ich dich abholen?

Mein Grinsen zieht sich bis zu beiden Ohren und sofort beginne ich, eine Antwort zu tippen. Als würde er es sich anders überlegen, wenn nach 3 Minuten keine Antwort von mir kommt.

3.51 p.m.
Ja, ich komm' dann raus.

Ich beginne, meinen Kleiderschrank zu durchwühlen. Es ist kalt draußen, also ist es theoretisch egal, was ich anziehe - es muss zweckmäßig sein und warmhalten. Am Ende entscheide ich mich für einen dunkelgrünen Pullover, Jeans und meine dunkelbraunen Stiefel - schön unauffällig. Meine braunen Haare binde ich zu einem unordentlichen Dutt – Henry soll ja nicht denken, ich würde mir Mühe mit meinem Aussehen geben.
Unten setze ich mich auf das Sofa und tue so, als würde ich in der Fernsehzeitung blättern, aber in Wirklichkeit schaue ich alle drei Sekunden aus dem Fenster. Ich bin so gespannt, ich freue mich so, ich - habe Angst. Ich meine, was tue ich hier eigentlich?! Habe ich wirklich gerade ein Date mit meinem Lehrer?
Oh, heute Abend kommt ein guter Film. Für den Fall, dass ich morgen nicht zur Schule gehe, werde ich mir auf jeden Fall die Wiederholung im Vormittagsprogramm ansehen.
Ein Auto fährt vorbei. Er ist es nicht. Ich springe auf und kontrolliere mein Aussehen im Spiegel. Es sieht scheiße aus. Ich sollte plastische Chirurgin werden, dann kann ich mich selbst hübsch operieren. Am liebsten würde ich den Spiegel zerschlagen.
Wieder kommt ein Auto vorbei, ein dunkles, aber diesmal wird es langsamer und hält auf der anderen Straßenseite am Rand. Er ist es. Er ist es!
Als er in Richtung des Fensters schaut, von dem aus ich ihn wie eine Stalkerin anstarre, springe ich zurück in der Hoffnung, dass er mich nicht gesehen hat.
Ich schnappe meine Tasche und gehe zur Tür. Als Henry mich sieht, lächelt er schief. Ich schlittere über die Straße rüber zu seinem Auto. Es ist so glatt, dass ich mich unauffällig an seiner Motorhaube festhalte, um sicher auf die Beifahrerseite zu kommen. Er macht mir von innen die Tür auf und ich setze mich ungelenk neben ihn. Das muss unendlich bescheuert ausgesehen haben, aber trotzdem strahlt er mich an. Wie ich dieses Lächeln liebe.
"Hey, geht's dir besser?" Wie ich seine Stimme liebe.
"Geht. Jetzt besser."
"Oh, dann muss ich wohl ab jetzt jedes Mal vorbei kommen, wenn es dir schlecht geht oder wenn du einen schlechten Schultag hattest." Er zwinkert mich an. Wie ich seine Augen liebe.
"Würde mich freuen. Also, was hast du vor? Fahren wir irgendwo hin?"
"Ja. Hast du Lust auf etwas Warmes zu trinken?" Ich nicke und er lässt den Motor an.
"Meinetwegen könnte es ruhig aufhören mit dem Schnee. Kalt kann es ja weiterhin bleiben, aber bei solchen Straßenverhältnissen macht es wirklich keinen Spaß mehr, Auto zu fahren.", sagt Henry nach einer Weile genervt. Die Straßen sind an einigen Stellen spiegelglatt, an anderen kommt der Winterdienst schon gar nicht mehr mit dem Schieben hinterher.
"Ich kann da nicht wirklich mitreden. Habe diese Woche nur mal ausnahmsweise Dad's Auto bekommen."
"Sei froh, dass du nicht jeden Tag Auto fährst. Ich würde mir das gerne sparen. Der Verkehr wird immer schlimmer, es sind immer mehr Autos auf den Straßen unterwegs und wenn dann auch noch so ein Wetter ist wie jetzt, ist man mit Bus und Bahn definitiv schneller."
"Aber mit einem Auto ist man unabhängig."
Er lacht. "Deine Probleme will ich haben."
Aber als er merkt, dass ich es anders aufgefasst habe, als er es gemeint hat, sieht er mich sofort entschuldigend an. "Es tut mir leid, so war das nicht gemeint, Erin! Ich meinte nicht..." Er legt seine freie Hand auf meinen Oberschenkel. Uiuiui.
"Ist schon in Ordnung." Ich versuche, ihn anzulächeln, und lege meine Hand auf seine. Das ist das zweite Mal, dass unsere Hände sich absichtlich berühren. Und in diesem Moment vergesse ich alles, was heute passiert ist. Ich spüre nur Henry und seine Wärme, die mich einhüllt wie eine warme Decke an einem Regentag. Er scheint zu bemerken, wie gut mir seine Nähe tut, und dreht seine Hand so, dass sich unsere Finger nun ineinander verschränken. Er sieht kurz zu mir, dann wieder auf die Straße.
Es fühlt sich so an, als wäre es nie anders gewesen. Als gäbe es für meine Hand gar keinen anderen Platz als in seiner.
"Im Ernst, es tut mir leid, was heute passiert ist. Ich habe so etwas selten erlebt. Nachdem du weg warst, habe ich versucht, sie zur Vernunft zu bringen."
Ich lache höhnisch. "Pah, das kannst du vergessen. Die sind nicht zur Vernunft zu bringen. Ich werde die letzten paar Wochen schon noch hinter mich bringen und dann ist es geschafft. Nora hat mir vorhin am Telefon erzählt, dass ich nichts Großartiges mehr verpasst habe."
"Wenn man bedenkt, dass du für die Mathematik nichts übrig hast, stimmt das." Mit seinem Daumen streichelt er über meinen Handrücken.
"Ich habe keine Lust mehr auf die Scheiße. Entschuldige, ich weiß, dass du Lehrer bist, aber es ist so. Hätte ich gewusst, dass die letzten beiden Jahre so eine Hölle werden, wäre ich nach der Zehnten abgegangen."
"Ich habe auch keine Lust mehr auf die Scheiße. Zum Glück sind bald Ferien."
„Aber du hast dir den Job doch ausgesucht."
„Das stimmt schon. Nur manchmal habe ich das Gefühl, dass mir meine Arbeit über den Kopf wächst. Manchmal wird alles zu viel, weißt du."
Ich schaue aus dem Fenster und kann schon fast nichts mehr erkennen. Es sind keine Lichter mehr zu sehen, also sind wir wohl nicht mehr in der Stadt.
Eine Weile schweigen wir. Im Radio läuft alte Musik leise vor sich hin und wir hängen beide unseren Gedanken nach.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt