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Mittwoch.
Ich habe es sogar geschafft, Henry nicht mehr zu antworten. Dafür bin ich heute umso aufgeregter. Wir haben die letzten beiden Stunden Mathematik bei ihm.
Oh, Mathe. Da war ja was.
Ich habe mir vorgenommen, mich in den Ferien mit Nora zu treffen und mit ihr für Mathe zu lernen. Und für alle anderen Fächer wahrscheinlich auch.
Der Weg zur Schule vergeht viel zu schnell, obwohl ich durch die Straßenglätte langsamer fahren muss als sonst.
Als ich die Schule betrete, sehe ich Henry am anderen Ende der großen Eingangshalle. Er unterhält sich gerade mit einem anderen Lehrer. Theoretisch stehe ich in seinem Blickfeld, aber er scheint mich nicht zu bemerken. Ich gehe lieber weiter.
Der Unterricht verläuft genauso wie jeden Tag. Ich mache mich so klein wie möglich, was mir aber nicht wirklich hilft, denn Nora und ich haben nur noch Plätze ganz vorne abbekommen. Ich mag es nicht, irgendwo ganz vorne zu stehen oder zu sitzen. Dann spüre ich immer die Blicke im Rücken wie Mückenstiche. Und ich habe Angst vor Mathe, besser gesagt vor Henry. Vor der Tatsache, dass ich bei ihm im Unterricht sitzen muss und so tun muss, als ob nichts von dem passiert wäre, was passiert ist.
"Erin, was hast du denn, hast du Hummeln im Hintern? Du wirkst heute irgendwie anders als sonst. Komm, wir gehen nochmal die Hausaufgaben durch." Hausaufgaben... Nora schaut mich an, dann begreift sie. "Sag nicht, du hast sie schon wieder nicht gemacht?"
Ich schaue sie unschuldig an. Als hätte ich in den letzten Tagen noch Gedanken für Mathematik übrig! Aber das darf sie natürlich nicht wissen.
"Sei nicht böse, Nora... Ich verstehe das einfach nicht! Ich bin zu dumm. Meinen Abschluss werde ich sowieso nicht..." Mr. Jones betritt den Raum und lässt mich verstummen. Als er mich sieht, lächelt er, nur ein kleines bisschen. Wieder muss ich an unser Treffen denken.
Nein, nein, raus aus meinem Kopf!
"Erin!" Nora reißt mich aus meinen Gedanken, was wohl auch besser so ist. "Ich fass' es nicht. Dann versuch' bitte wenigstens, heute mal zuzuhören." Sie sieht mich eindringlich an. Als ob ich mich noch auf irgendetwas anderes konzentrieren könnte als auf ihn. Trotzdem nicke ich.
Mr. Jones beginnt den Unterricht und mein Kopf meldet sich ab. Er schreibt lauter Zahlen und Formeln an die Tafel und dreht sich dann zu uns um.
"So Leute, als Erstes vergleichen wir eure Hausaufgaben." Ja, genau. Die Hausaufgaben, die ich nicht habe. Ich sehe ihn hilfesuchend an, ein stummes Flehen, dass er mich nicht dran nehmen soll. Aber er versteht es nicht.
"Wer macht die erste Aufgabe?" Niemand meldet sich. Ich versinke in meinem Stuhl, schaue gebannt auf mein leeres Blatt und möchte unsichtbar werden. Er kann jeden aufrufen, nur mich bitte nicht.
"Jasmin, wie wäre es mit Ihnen?" Puh. Ich bin nicht Jasmin. Jasmin ist eine eher ruhige, durchschnittlich begabte Schülerin. Sie ist zu jedem nett und wird in Ruhe gelassen. Nur leider hat sie die Aufgabe falsch. Mr. Jones sieht sich in der Klasse um, wer nun helfen könnte.
"Dann Erin." Das kann doch nicht sein Ernst sein! Anscheinend hat er kein Feingefühl. Hat er alles vergessen, was ich über meine schulischen Fähigkeiten erzählt habe? Ich schaue hinter meinem pfützenregenhimmelgraubraunen Haarvorhang hervor. Ihm hätte doch klar sein müssen, dass ich keine Ahnung habe! Er hätte es wissen müssen! Aber er sieht mich erwartungsvoll und freundlichen an. Ich bin kaum imstande, meinen Mund zu öffnen und Worte zu formulieren.
"Ich... Ich habe es nicht." Er sieht mich an. Aber nicht böse, sondern eher entschuldigend. Als würde ihm jetzt klar werden, dass er besser jemand anderen gefragt hätte. Seine Augen weiten sich ein wenig.
Und die Show beginnt. Ladies and Gentlemen, sehen Sie nun: Der Untergang der Erin Whyler, Auflage 347.
"Oh, sie hat es nicht, wer hätte das gedacht!"
"Ich frage mich, wieso die dann überhaupt hier ist. Ist doch sowieso zu dumm."
"Sie könnte genauso gut zu Hause bleiben oder sich irgendwo 'ne Arbeit als Putzfrau suchen, da wäre sie besser aufgehoben."
Live und in voller Länge. Ungeschnitten.
Was mache ich eigentlich noch hier? Nora ergreift das Wort.
"Was ist denn bloß los mit euch? Ich wette, mindestens die Hälfte von euch versteht die Scheiße selbst nicht! Also haltet doch einfach die Klappe und lasst Erin endlich in Ruhe!" Ihre Stimme ist ungewöhnlich laut und wütend. Sie funkelt unsere Klassenkameraden wutentbrannt an.
So sehr sie mir auch helfen wollte, aber die Klasse bricht in Gelächter aus. Es reicht mir, ich muss hier raus. Ich kann die sich anbahnende Panikattacke schon fühlen. Langsam kriecht sie in meinem Hals hoch und macht mir das Atmen schwer. Wortlos und mit zittrigen Händen packe ich meine Sachen zusammen und versuche dabei, regelmäßig ein- und auszuatmen.
Henry versucht mit aller Macht, die Klasse wieder unter Kontrolle zu kriegen. Vergebens. Ich stehe auf und nehme meine Tasche. Er sieht mich ungläubig an. Mir kommen die Tränen. Ich weiß, es kommt nicht gut an, einfach mitten im Unterricht aufzustehen und zu gehen, aber das ist mir in diesem Moment egal.
"Erin, du kannst doch jetzt nicht gehen!", flüstert Nora mir zu. Ich beuge mich zu ihr runter und umarme sie kurz. Dafür ernte ich natürlich sofort wieder vernichtende Worte und Gelächter.
"Es ist schon gut, Nora. Wir reden heute Abend, okay?"
"Süße..." Sie sieht aus, als würde sie selbst gleich anfangen zu weinen.
"Ist schon gut. War doch klar, dass es so kommt. Dass sowas passiert. Danke, dass du versucht hast, mir zu helfen. Bis später."
Ich wische mir meine Tränen weg und flüchte in Richtung Tür. Mr. Jones muss ich wohl kaum sagen, dass ich jetzt gehe. Ich schaue ihn nur kurz an und verlasse dann hastig den Raum. Nachdem ich die Tür leise hinter mir geschlossen habe, renne ich los, blind vor Tränen. Aber sehr weit komme ich nicht. Hinter der nächsten Ecke geben meine Beine nach. Ich lehne mich gegen die Wand und sacke zusammen. Wie oft habe ich ungefähr schon wegen meiner Klassenkameraden geweint? Zu oft wahrscheinlich. Das einzig Gute ist, dass es in ein paar Wochen vorbei ist. Aber diese paar Wochen sind so verdammt hart. Wie soll ich das bloß schaffen? Kann sich denn heutzutage niemand mehr auf seine eigenen Probleme konzentrieren? Ich höre schnelle Schritte auf dem Flur und kurz darauf hockt Henry neben mir. Ich schirme mein Gesicht mit den Händen ab. Er soll mich so nicht sehen.
Reiß dich zusammen!
Langsam stehe ich auf. Mir ist schwindelig. Ich brauche ein paar Sekunden, um mein Gleichgewicht wieder zu finden. Henry steht auch auf. Er ist so nah. Aus traurigen Augen sieht er mich an.
"Mr. Jones, ich werde jetzt nach Hause fahren. Mir geht es nicht so gut."
Mir geht es nicht so gut, haha. Ich muss so sehr weinen, dass ich zittere.
"Erin, ich kann gar nicht fassen, was da eben passiert ist. Es tut mir so leid, ich hätte jemand anderen aufrufen sollen. Was ist denn bloß los mit denen?"
"Es ist schon gut. Darf ich jetzt gehen?"
"Natürlich." Henry legt vorsichtig eine Hand auf meine Schulter. "Wenn irgendetwas ist, kannst du dich ruhig bei mir melden."
Ich lächele ihn schief an. "Danke, Henry."
"Denkst du, dass du morgen zur Schule kommst?"
Nein. "Ich weiß es noch nicht."
Aber ich weiß, was ich heute Abend tun will. "Können wir uns nachher sehen?"
Das darf ich nicht. Und er erst recht nicht! Aber ich will es.
Er sieht sich um, ob jemand uns hören könnte. Dann lächelt er und wischt mir eine Träne aus dem Gesicht. Meine Haut kribbelt unter seinen Fingern.
"Ich würde mich freuen."
"Ich mich auch..." Meine Stimme bricht ab.
"Bis später." Ich kann nur noch flüstern. Henry sieht mich traurig an. Kaum merklich berühre ich seine Fingerspitzen - und bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper. Was ist hier bloß los? Als Henry das bemerkt, lacht er auf und drückt mich kurz an sich.
Oh mein Gott!
"Bis später, ich muss wieder rein." Er lächelt mir noch einmal zu und wendet sich zum Gehen um. Und ich bleibe stehen und versuche zu realisieren, was hier gerade vor sich geht.

Don't.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt